All or Nothing

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Mittwoch, 4. April 2012, ARTE, 20:15 Uhr

Wie kaum ein anderer Regisseur versteht es der britische Filmemacher Mike Leigh, die großen Sorgen der so genannten kleinen Leute als starke Stoffe mit krudem Realismus auf die Kinoleinwand zu bannen. Mit Filmen wie Das Leben ist süß / Life is Sweet (1990), Nackt / Naked (1993) und Lügen und Geheimnisse / Secrets & Lies (1995) präsentiert er seine überwiegend tragischen Heldinnen und Helden am Rande von alltäglichen Verzweiflungen mit so ungeheurer Intensität vor dem Hintergrund ihrer sozialen Desolationen, dass es geradezu ein Kunststück ist, dass sie am Ende ihrer eingangs reichlich trostlos erscheinenden Geschichten einiges an Würde gewonnen haben. Und genau darin liegt die Botschaft von Mike Leigh mit seinen präzise beobachteten Milieu-Studien einer marginalisierten Arbeiterklasse: Mit aufrichtigem, unspektakulärem Respekt vor der als unantastbar deklarierten Würde jeder menschlichen Kreatur inszeniert der Brite jüdisch-russischer Abstammung genau jene bedeutsamen Momente im Leben seiner Figuren, die es ihnen ermöglichen, zumindest ein gutes Quentchen an Wertschätzung für sich selbst zurückzuerobern, was in All or Nothing aus dem Jahre 2002 in ganz besonders bewegender Weise zum Ausdruck kommt.
Es ist ein tristes, von offenen bis verborgenen Problemen beherrschtes Leben, das der Taxifahrer Phil (Timothy Spall) mit seiner Familie in einem räudigen Viertel Londons führt. Von seiner Frau Penny (Lesley Manville), die in einem Supermarkt arbeitet, fühlt sich Phil schon lange nicht mehr respektiert, geschweige denn geliebt, und der Umgang mit seinen erwachsenen Kindern Rachel (Alison Garland), die sich höchst unzufrieden als Putzfrau in einem Seniorenheim verdingt, und Rory (James Corden), der seine sinnentleerte Lebenszeit vor dem Fernseher verbringt, besteht überwiegend aus erstarrten Floskeln und rüden Streitigkeiten. Während Penny sich mit ihren Freundinnen mitunter bei Karaoke-Veranstaltungen vergnügt und die Kinder sich mit übermäßiger Nahrungszufuhr trösten, findet Phil in seinem eintönigen und unerquicklichen Alltag so gut wie keine Entlastung mehr. Eines Tages unternimmt er mit seinem Taxi spontan einen Ausflug ans Meer und lässt für eine kleine Weile der Weltflucht seine Seele baumeln. Doch währenddessen ereignet sich in der Familie zu Hause eine Katastrophe, die allerdings auch die Chance zu tief greifenden Veränderungen mit sich bringt …

Ob die filmischen Geschichten von Mike Leigh nun nichts oder gerade etwas für sensible Gemüter sind, lässt sich kaum pauschal entscheiden, doch dass sie direkt in die Sphäre der existenziellen Emotionalität vordringen, ist unbestritten. All or Nothing wurde 2002 im Wettbewerb um die Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele von Cannes uraufgeführt und 2003 für Lesley Manville als Beste britische Schauspielerin des Jahres mit dem London Critics’ Circle Film Award ausgezeichnet. Bei ebenso differenzierten wie feinfühligen schauspielerischen Darstellungen ist hier ein schwelend intensives Porträt einer kleinen Familienhölle, eingebettet in ungünstige soziale Umstände, entstanden, das bei allem gelungen inszenierten Unbehagen am Ende deutliche Hoffnungsschimmer auf eine dauerhaft günstige Entwicklung hinterlässt – ein weiterer bemerkenswerter Film von Mike Leigh, der wirkungsvolle Akzente für ein waches Bewusstsein menschlichen Abgründen gegenüber setzt.

All or Nothing

Wie kaum ein anderer Regisseur versteht es der britische Filmemacher Mike Leigh, die großen Sorgen der so genannten kleinen Leute als starke Stoffe mit krudem Realismus auf die Kinoleinwand zu bannen. Mit Filmen wie „Das Leben ist süß“ / „Life is Sweet“, 1990, „Nackt“ / „Naked“, 1993 und „Lügen und Geheimnisse“ / „Secrets & Lies“, 1995, präsentiert er seine überwiegend tragischen Heldinnen und Helden am Rande von alltäglichen Verzweiflungen mit so ungeheurer Intensität vor dem Hintergrund ihrer sozialen Desolationen, dass es geradezu ein Kunststück ist, dass sie am Ende ihrer eingangs reichlich trostlos erscheinenden Geschichten einiges an Würde gewonnen haben.
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