Ajami - Stadt der Götter (DVD)

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Das alltägliche Babel

Ajami ist eher ein Dampfdrucktopf als ein multikultureller Schmelztiegel: In dem armen, vornehmlich arabischen Viertel in Tel Aviv-Jaffa leben Muslime, Christen und Juden eng beieinander. Ausbrüche von Gewalt gehören hier zum Alltag.
Ajami ist ein Film direkt aus dem Inneren dieses komplexen Organismus, in dem die Leute doch eigentlich nur ihren Alltag leben wollen, aber gleichzeitig ums Überleben kämpfen. TV-Berichte über Anschläge und Morde werden kaum mehr als ein alltägliches Hintergrundrauschen wahrgenommen, solange es einen nicht unmittelbar betrifft.

Das gemeinsame Spielfilmdebüt von Yaron Shani (einem israelischen Juden) und Scandar Copti (einem palästinensischen Christen aus Jaffa) erzählt von Menschen, deren Schicksale in den unmittelbaren Sog der Gewalt geraten.

Da ist zunächst Omar, dessen Familie durch einen Rachefeldzug bedroht ist, weil sein Onkel einen Schutzgelderpresser niedergeschossen hat, der einem mächtigen Clan angehört. Da ist Binj (gespielt von Scandar Copti), der am liebsten mit seiner jüdischen Freundin aus Ajami wegziehen will, um unbehelligt mit ihr zusammenleben zu können. Aber jetzt hat er erstmal ein Paket Drogen von seinem Bruder am Hals, der nach einer Messerstecherei auf der Flucht ist. Auf der Seite der israelischen Justiz steht Dando, ein jüdischer Polizist und Familienmensch, dessen Leben vom Verschwinden seines Bruders während des Militärdienstes überschattet ist. Malek, ein jugendlicher Palästinenser, kommt aus den besetzten Gebieten illegal über die Grenze, um Geld für die Krankenhauskosten seiner Mutter zu verdienen, die eine Knochenmarks-Transplantation braucht.

Der palästinensische Christ Abu Elias schließlich ist so etwas wie der „Pate“ des Viertels. Er vermittelt und regelt Angelegenheiten, zieht Strippen und bei ihm laufen tatsächlich einige Fäden zusammen: In seinem Restaurant arbeiten Malek, Binj und Omar. Abu Elias kann als Vermittler helfen, den Rachefeldzug gegen Omars Familie zu beenden – indem er in einem traditionellen Clan-Meeting die Zahlung einer hohen Geldsumme aushandelt. Doch dieses Geld muss Omar erst einmal auftreiben. Dass er, der Muslim, auch noch in Abu Elias Tochter Hadir verliebt ist, wird Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Geschehnisse haben. Ebenso wie das Paket Drogen, das für Omar und Malek eine Chance auf das schnelle Geld sein könnte, genauso wie es ein Grund dafür ist, dass Dando ihren Weg kreuzt.

Omars kleiner Bruder Nadir führt den Zuschauer zu Beginn des Films in die Zusammenhänge ein, die anfangs schwer zu überschauen sind. Nadir versucht sie für sich selbst begreifbarer zu machen, indem er Comics von dem, was um ihn herum passiert, zeichnet. Doch seine Sicht der Dinge ist nur ein kleines Mosaikstück eines viel größeren Bildes mit noch komplexeren Zusammenhängen, die sich dem Zuschauer im Verlauf des Films erst nach und nach erschließen werden.

Ajami ist ein kaleidoskopartiger Blick in einen brisanten Mikrokosmos des Nahen Ostens. In ihrem ebenso kraftvollen wie mutigen Film geht es den Regisseuren nicht um große Politik oder die Frage nach Täter oder Opfer, es gibt keine Wertungen oder Schuldzuweisungen. Die Realität des Alltags ist kompliziert genug. Die Form des Films trägt dem konsequent Rechnung: In fünf Kapiteln fächert der Film ein komplexes Mosaik auf, von Menschen und ihren Motivationen, vom alltäglichen Leben und Sterben in Israel.

Die in Chronologie und Blickwinkel zersplitterte Narration (wie sie z.B. auch Alejandro Gonzalez Iñárritu in seinen Filmen Amores Perros, Babel, 21 Gramm zelebriert, oder Paul Haggis in L.A. Crash) wirkt hier nicht als Kunstgriff, sondern erscheint die einzig angemessene Form zu sein, der Unübersichtlichkeit der Situation mit ihren Implikationen, Interpretationsverlusten und auch tragischen Zufällen gerecht zu werden.

Letztendlich geht den Regisseuren um ihre Figuren, die Menschen und ihre Schicksale. Die beiden haben nicht einfach einen Film über, sondern ein Projekt mit den Menschen von Ajami gemacht. Alle Schauspieler in Ajami sind Laiendarsteller, die sich in einem zehnmonatigen Workshop mit den Regisseuren durch Rollenspiele und Improvisationen auf ihre Rollen vorbereitet haben. Es sind Menschen, die nie zuvor vor einer Kamera standen, wohl aber direkt aus der Lebenswirklichkeit kommen, von der der Film erzählt. Die durchweg sehr eindrucksvoll agierenden Darsteller erhielten weder ein komplettes Drehbuch und noch festgelegte Dialogzeilen, sondern nur einen Abriss über das unmittelbare Umfeld ihrer jeweiligen Rolle. Manche Szenen (wie das Clan-Meeting) sind sind sogar eher dokumentarisch gedreht als inszeniert. Durch die so geforderte Spontaneität entsteht auf der Leinwand eine Unmittelbarkeit, die auch durch den Einsatz der Handkamera verstärkt wird. Dabei wirkt die Bildgestaltung unaufdringlich und organisch, die Kamera erscheint niemals als Eindringling. Und doch hat man als Zuschauer das Gefühl, ganz einzutauchen in diese fremde Welt mit ihrem Sprachwirrwarr aus Arabisch und Hebräisch, das die Menschen in ihrem Alltag zugleich vereint und trennt. In den Untertiteln des Films wird deshalb mit angegeben, in welcher Sprache gerade gesprochen wird.

Der mit dem ZDF und ARTE koproduzierte Film wurde schon mit fünf Ophir Awards (dem höchsten israelischen Filmpreis) ausgezeichnet, jetzt geht er für Israel ins Rennen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.

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