Agnes (2016)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Liebe in der Unschärferelation

Agnes wandelt im Schnee: Sie ist gefühlt nackt. Um sie herum nur deutscher Dämonenwald: Es ist pechschwarz – und sterbenskalt. Aber genau das will sie ja! Der Reißverschluss geht auf, die Kleider fallen und ihre Füße graben sich sanft in den weißen Untergrund. Michael Bertls exzellente Kamera mit bewusstem Blaustich folgt ihr von Beginn an unaufdringlich, aber gnadenlos: Agnes’ Reise mit der fulminanten Odine Johne in der Titelrolle geht hier zu Ende. Oder beginnt sie nur wieder von vorne?

Sicher ist, dass nichts sicher ist in diesem wahrlich bemerkenswerten Wettbewerbsbeitrag des bereits erfahrenen Johannes Schmid (Blöde Mütze!, Wintertochter) beim 37. Festival Max Ophüls Preis in Saarbücken. Umso mehr fasziniert das fesselnd-liebliche Spiel der Physik studierenden Protagonistin, der Walter (Stephan Kampwirth) vom ersten Moment an blind verfällt. Immerhin im biederen Setting einer deutschen Universitätsbibliothek, weil Walter dort als Sachbuchautor gerade zur Geschichte des deutschen Arbeitsbegriffes recherchiert. Eher aus Unlust, aber im stillen Verlangen sicherlich auch für seine zweite große Liebe: Louise (Sonja Baum), einer professionell-distanzierten PR-Agentin im selten gefälligen Verlagswesen. Mit ihr verbindet ihn lediglich der pure Austausch von Körperflüssigkeiten, inklusive die Aussicht auf neue, möglichst lukrative Verlagsangebote: Zweisamkeit sieht anders aus.

Der konkurrierenden Agnes kann sie weder optisch noch intellektuell – und erst recht nicht emotional – das Wasser reichen, was schnell deutlich wird: Agnes interessiert sich nämlich als begabte Naturwissenschaftlerin für die großen metaphysischen Fragen des Lebens, drunter geht es bei ihr nicht: „Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?“ will sie gleich zu Beginn des rasch immer feurig werdenden tête-à-têtes von Walter wissen. Auch zuvor war sie es, die zum meist reservierten Walter ins Taxi gestiegen ist und ihn durch sinnfällige Fragen gleichzeitig anturnt wie zeitweise versteinern lässt: „Wie möchtest du sterben?“. Keine schlechte Frage nach dem ersten Date.

Ob er Bücher schreibe, um von den Menschen später nicht vergessen zu werden, lautet eine andere Frage an den lange hadernden Schriftsteller, ehe Schmids dritter großer Spielfilm lustvoll in den intellektuellen Schleudergang hochschaltet. Mehrfaches Erzählen in diversen Schachtelungen mit Backspin-DJ-Technik und reichlich offenen Fragestellungen in einem jungen deutschen Film? Funktioniert das wirklich – oder beschäftigt sich da der Zuschauer nicht automatisch sofort mit anderen, in der Regel internationalen, Referenzfilmen?

Was normalerweise nicht gerade als eine deutsche Domäne gilt, geht in Schmids gekonnter Adaption der viel gelesenen Peter-Stamm-Vorlage vollends auf. Ob in den feinfühligen, deutlich ehrlicheren Sexszenen als in vielen anderen deutschen Produktionen der letzten Jahre oder in den zahlreichen, akustisch wie visuell berauschenden Rückblenden: Hier stimmt in der Tat vieles, was in erster Linie dem Gesicht wie der erotischen Strahlkraft von Odine Johne (Jack, Die Welle) zu verdanken ist. Mit weißen Isabella-Rossellini-Wangen und unerhörter Naturerotik, wie man sie sonst nur aus ungekünstelten skandinavischen Filmen kennt, verzehrt sie sich für Walter – und damit auch für den Zuschauer.

Schöner leiden und sterben in Düsseldorf hätte Johannes Schmid seinen autopoetischen Filmritt durch tatsächliche Zeit- und fingierte Raumzonen sicherlich auch taufen können, denn hier regiert die Heisenbergsche Unschärferelation: Vieles kann, nichts muss real sein. Zwei komplementäre Teilchen dieser einen Wundersache namens Liebe sind nicht gleichzeitig genau bestimmbar. Erst recht nicht im selben Moment: Gemeinsame Koinzidenzen ergeben sich eben, und bleiben doch fluide-flüchtig. „Ich könnte so leben: nackt – und ganz nah an allem“ erklärt Agnes ihrem gefühlstaumelnden Schriftsteller einmal so präzise wie wundersam. Das „Glück mag einfach keine guten Geschichten“ hält Walter der ihm hemmungslos verfallenen Studentin forsch entgegen. „Ich habe nicht gewusst, wie wirklich es wird“ heißt es von ihm darauf an anderer Stelle. Besser lässt sich Schmids stark besetztes Psychogramm einer metaphysischen Liebesliaison gar nicht in Worte fassen: Es ist einfach passiert. Nachhaltig und überwältigend.
 

Agnes (2016)

Agnes wandelt im Schnee: Sie ist gefühlt nackt. Um sie herum nur deutscher Dämonenwald: Es ist pechschwarz – und sterbenskalt. Aber genau das will sie ja! Der Reißverschluss geht auf, die Kleider fallen und ihre Füße graben sich sanft in den weißen Untergrund. Michael Bertls exzellente Kamera mit bewusstem Blaustich folgt ihr von Beginn an unaufdringlich, aber gnadenlos: Agnes’ Reise mit der fulminanten Odine Johne in der Titelrolle geht hier zu Ende. Oder beginnt sie nur wieder von vorne?

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Meinungen

Luana · 07.03.2023

Der Film ist schrecklich. Dieser hat nichts mehr mit dem Buch zu tun, ihn nicht zu schauen erspart euch einiges. Die Zeit kann man in sinnvolleres investieren.
Liebe Grüße

Chris · 02.08.2016

Ja, ein bemerkenswerter Film, der durch seine wechselseitige Komplexität zu überraschen und überzeugen vermag. Einen derart "gefälligen"und nachwirkenden deutschen Film, sieht man so nicht alle Tage, prima.
Vielleicht hätte man ihn auch (ca.) 10Min. früher enden lassen können, (als eine schön weiße Aufblendung kam), dann wäre das Ende offener geblieben...

Michael · 14.06.2016

Ich musste von Jena nach Erfurt fahren, aber die Fahrt hat sich gelohnt. Eine bezaubernde Hauptdarstellerin, tolle Kameraführung und Fotografie und eine wunderbar mehrdeutige Handlung, die Raum zum Nach-Denken lässt. Die schöne Rezension von kino-zeit geht völlig in Ordnung.