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Marie Wilkes Film „Aggregat“ nimmt ein politisch zerfasertes, medial gespaltenes Land knochenhart in den Fokus: Wo leben wir hier eigentlich und wie geht es der lange wiedervereinigten Deutschland AG?

Aggregat (2018)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Aber das sind echte Menschen

Und ich frag, ich frag mich wo wir stehen heißt es in einer Liedzeile, die gleich zu Beginn von Marie Wilkes zweitem langen Dokumentarfilm Aggregat kurz zu hören ist. Sie stammt aus Paul van Dyks und Peter Heppner populärem Dance-Track Wir sind wir (Ein Deutschlandlied), der 2004 zuerst in Techno-Clubs lief, dann weit vorne in den deutschen Charts, ein Jahr darauf sogar während des Staatsaktes zum Tag der Deutschen Einheit in Potsdam – und inzwischen völlig zweckentfremdet häufig auf sächsischen Pegida-Demos oder im Rahmen diverser AfD-Veranstaltungen von Björn Höcke auf dem Erfurter Domplatz, bis die Anwälte auf beiden Seiten ins Spiel kamen…

Jenes an sich äußerst ehrenwerte Fragen nach dem wo wir stehen durchzieht dann auch Wilkes streng komponierten, überaus assoziationsreichen Dokumentarfilm von der ersten Minute an. Während in ihrem Film beispielsweise die einen wutentbrannt – und immer noch auf gruseligste Weise – „Lügenpresse“ vor der Dresdner Semperoper skandieren, fragen sich an anderer Stelle – zum Beispiel im Deutschen Bundestag – nicht nur Führer von Besuchergruppen oder diverse Politiker hinter verschlossenen Abgeordnetentüren unentwegt dasselbe: Was ist nur los in Deutschland anno 2018? Was ist beinahe 30 Jahre nach dem Wunder der Wiedervereinigung aus diesem Land geworden?

Um es kurz zu machen: Aggregat, der nun innerhalb des Berlinale-Forums seine Weltpremiere feierte, ist genau der richtige Film zur richtigen Zeit – sozusagen die Aktuelle Stunde auf der Kinoleinwand. Marie Wilke (Staatsdiener) und ihr Stamm-Editor Jan Soldat, der selbst bemerkenswerte Indie-Dokumentarfilme verantwortet, haben dafür diese kurze Liedzeile klug ausgewählt und ihrem offen politisch konnotierten, wunderbar reflexiven Dokumentarfilm bewusst vorangestellt, weil sich darin schlichtweg das ganze gegenwärtige politisch-moralische Dilemma in wenigen Worten bündelt.

Wie kein zweiter Film im diesjährigen Berlinale-Programm kreist er schließlich ohne Pause um den inzwischen politisch hoch vergifteten Zeitgeist dieser Republik: Ohne Kommentar, genauso entlarvend wie beobachtend und mitunter so brutal hart, dass einem Arme und Beine zittern. „Wo lebe ich hier überhaupt?“, wird man sich ehrlicherweise beim Betrachten dieses herausragend komponierten Dokumentarfilms unentwegt fragen müssen.

Das beginnt beispielsweise schon am zentralen Ort unserer politischen Elite: Dem Deutschen Bundestag zu Berlin. Dort werden bei Bundestagsführungen und in Fake-Parlamentssitzungen lieber Witze über ein angebliches „Bundesbutterstollen-Gesetz“ gerissen, anstatt den Besuchern klipp und klar die Vorzüge eines demokratischen Ordnungssystems vor Augen zu führen. Und geht weiter bei einer lokalen, absolut trostlosen SPD-Parteiveranstaltung im Erzgebirge, von der nun wahrlich kein Geist des Aufbruchs mehr ausgeht …

Das setzt sich ebenso schauderhaft fort, im Rahmen aufgebrachter MitbürgerInnen, die Sätze wie „Das sieht aber sehr zigeunerisch aus“ von sich geben, während sie im selben Moment eine Tasche mit dem deutschen Bundesadler geschenkt bekommen, was diesen eh schon reichlich grotesken Moment noch einmal ins Unerträgliche steigert. Und wird nicht minder ekelhaft in manchen Redaktionsstuben des Landes tagtäglich fortgeführt: Namentlich der Bild-Zeitung in Berlin-Mitte, in der – es ist nicht auszuhalten – lieber Geschichten über Kaffeefahrten-Betrüger und ehrliche Lohnzettel-Empfänger nach oben gehievt werden, anstatt einer über syrische Gefangene, die in Assads Terror-Gefängnissen brutal zu Tode kommen: Allein der Auflage wegen. Mit dem zynischen Argument: „Aber das sind echte Menschen“ – und alle lachen mit.

Wer ist also nun mit „wir“ gemeint in diesem knochenharten, überaus erhellenden Dokumentarfilm zum Status quo dieser Nation? Speziell bei diesem Wir sind wir! Wir stehn’ hier! Das kanns noch nicht gewesen sein, keine Zeit zum Traurigsein, der inzwischen unfreiwillig berühmt gewordenen Refrainzeile aus dem eingangs erwähnten Track, die so zwar in Aggregat nicht mehr direkt zu hören ist, aber bedauerlicherweise durch den Aufstieg der AfD bei der letzten Bundestagswahl wohl unweigerlich noch öfter skandiert wird: Gerichtsprozesse hin oder her. Denn gefährliche, alte Männer aus den neuen Bundesländern, die Wilkes Film gleich mehrfach im O-Ton zu bieten hat, werden sich durch die gängige „Lügenjustiz“, wie sie das nennen, sicherlich nicht abbringen lassen, weiterhin „einen Käfig zu fordern für alle, die bei uns Asyl suchen: Rein damit.“

Im Gegenzug erklären Mitglieder aus allen Parteien in kleinen Workshop-Zirkeln ebenfalls ganz offen, dass sie im Prinzip keine klaren Abwehrstrategien gegen „dieses Verschwörungstheoretische“ und den gegenwärtig spürbar explodierenden „Fundamentalismus rechter Art“ haben, was im selben Zuge einer politischen Bankrotterklärung gleichkommt. Denn „mit dem kannst du nicht reden“, windet sich im nächsten Moment einer der Beteiligten wenig überzeugend aus der Affäre. Ein anderer, immerhin Sachsens Wirtschaftsminister aus den Reihen der SPD, fasst an anderer Stelle gleichzeitig den ur-schizophrenen Gegenwartszustand durchaus passend in Worte: „Objektiv geht’s dem Land so gut wie seit 25 Jahren nicht mehr. Und die Stimmung ist so schlecht wie seit 25 Jahren nicht mehr.“

Mit diesem Film geht es Deutschland in jedem Fall schon einmal deutlich besser: Zumindest im Filmischen wie auch auf intellektueller Ebene. Denn er stellt unentwegt unangenehme Fragen, rüttelt gleich mehrfach intensiv an unseren Grundvorstellungen, die aktuell reichlich ins Wanken geraten sind. „Gibt es denn dazu keine Frau?“ heißt es später einmal in einem Redaktionsgespräch unter taz-Journalistinnen. Eine, die aus all den täglichen Störfeuern unserer politischen Realität noch etwas Sinnhaftes kreieren kann? Doch, die gibt es: Und sie heißt Marie Wilke.

Aggregat (2018)

Aggregat“ beobachtet ohne Kommentar den politischen und journalistischen Alltag hinter den Kulissen und setzt sich zusammen aus Beobachtungen in Redaktionen, auf öffentlichen Plätzen und im Bundestag in Deutschland — und das In einer Zeit des Umbruchs: Flüchtlingskrise und Rechtspopulismus stellen das demokratische System auf die Probe. Drehorte waren Redaktionen, die Bundespressekonferenz und Konferenzräume im Bundestag, aber auch Schrebergärten, Marktplätze und Gaststätten.

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Meinungen

Ulla · 26.02.2018

"Dort werden bei Bundestagsführungen und in Fake-Parlamentssitzungen lieber Witze über ein angebliches 'Bundesbutterstollen-Gesetz' gerissen, anstatt den Besuchern klipp und klar die Vorzüge eines demokratischen Ordnungssystems vor Augen zu führen."

Als Kollegin der Bundestagsmitarbeiter möchte ich dazu klar stellen: nur weil im Film dieser witzige Ausschnitt gezeigt wurde, heißt das wirklich und überhaupt ganz und gar nicht, dass wir den Besuchern nicht "klipp und klar die Vorzüge eines demokratischen Ordnungssystems" erklären würden. Im Gegenteil, darüber reden wir uns die Münder fusselig. Diese unterhaltsam angelegten Parlamentssitzungen sind zudem vor allem Bestandteil einer kleinen Show-Einlage in unterschiedlichen Städten zum Tag der Deutschen Einheit. Das das nicht klar wurde, liegt nun wiederum an dem Film.