Abschied von gestern (1966)

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Die eindringliche Montage eines Frauenschicksals

Es ist die unauslotbare Verlorenheit der jungen Protagonistin Anita, die diesen Film aus dem Jahre 1966 zu einem bewegenden Stück über Sehnsucht, Identität und die triste Melancholie des Verlustes von Rückbindung werden lässt. Regisseur Alexander Kluge, dessen Schwester Alexandra mit schauriger Intensität die Hauptfigur in Abschied von gestern verkörpert, hat damit sein ebenso unbehagliches wie bedeutsames Spielfilmdebüt inszeniert, das vor dem Hintergrund des Oberhausener Manifests aus dem Jahre 1962 entstand. Unter den 18 unterzeichnenden Regisseuren engagierte sich auch Alexander Kluge für eine Erneuerung des deutschen Spielfilms im Zuge der Distanzierung vom verstaubten Filmwesen der Nachkriegszeit. „Papas Kino ist tot!“ lautete die Devise des Aufbruchs zum Neuen Deutschen Film, der durch Werke wie Tschetan, der Indianerjunge von Hark Bohm, Der junge Törless von Volker Schlöndorff, Bübchen von Roland Klick, Es von Ulrich Schamoni, Liebe ist kälter als der Tod von Rainer Werner Fassbinder und eben Abschied von gestern von Alexander Kluge repräsentiert wird.

Sie ist 22 Jahre alt, hat den verträumten Blick einer tieftraurigen Einsamkeit und muss sich vor dem Richter (Hans Korte) für den Diebstahl der Jacke einer Arbeitskollegin verantworten: Die Krankenschwester Anita (Alexandra Kluge) hat es gegen Ende der 1950er Jahre aus der DDR ins westdeutsche Braunschweig verschlagen, wo sie nun auf Grund dieser Straftat zunächst einsitzt und dann zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt wird. Den streng moralisierenden Fittichen ihrer Bewährungshelferin entflieht die junge Frau bald, von der wir in eingeflochtenen Bildern erfahren, dass sie Jüdin ist und ihre zuvor gut situierte Familie die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus überlebt hat – doch diesen Aspekt ihrer Vergangenheit wischt der Richter mit einer knappen Geste als geringfügig fort. Anita findet in einer anderen Stadt einen Job als Vertreterin von Schallplatten mit Lernprogrammen von Fremdsprachen und wird kurzzeitig die Geliebte ihres verheirateten Chefs, der sie jedoch bald abserviert. Erneut zieht Anita weiter und lernt den Ministerialrat Pichota (Günter Mack) kennen, mit dem sie eine Affäre beginnt, doch auch diese Beziehung scheitert, und wiederum irrt die junge Frau orientierungslos umher …

Beim Internationalen Filmfestival von Venedig uraufgeführt und mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet sowie in vier Kategorien mit dem Filmband in Gold prämiert stellt Abschied von gestern das berührende Porträt eines unwegsamen Frauenschicksals dar, das nicht permanent linear inszeniert wurde, sondern einer Montage von Sequenzen gleicht, deren Ausschnittcharakter in semi-dokumentarischer Manier eher andeutet als ausführt und erklärt. Eingeblendete Zwischentitel erscheinen ordnenden Kommentaren gleich, die als Begleitung der eindrucksvoll trostlosen Bilder das Spannungsfeld von Gegenwart und persönlicher Geschichte zu einer untentrinnbaren Distanz und Einsamkeit verdichten. Regisseur und Drehbuchautor Alexander Kluge, der den Film nach seiner eigenen literarischen Vorlage realisierte, stellt der Geschichte der Anita G. ein Zitat des Schriftstellers und Literaturkritikers Reinhard Baumgart voran: „Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage.“ Dieses vielschichtige Motto transportiert im Kontext der deutschen Vergangenheit einen Moloch an Dimensionen, in dem sich die Spuren der jungen, traumatisiert wirkenden Frau letztlich verlieren. Das ist dramaturgisch wie erzählerisch in der Tat ein markanter Aufbruch zu neuen Ufern innerhalb des deutschen Films, der hier seinen Abschied von den seichten Mustern der damals in Gefälligkeiten erstarrten Filmproduktion überaus gelungen zelebriert.
 

Abschied von gestern (1966)

Es ist die unauslotbare Verlorenheit der jungen Protagonistin Anita, die diesen Film aus dem Jahre 1966 zu einem bewegenden Stück über Sehnsucht, Identität und die triste Melancholie des Verlustes von Rückbindung werden lässt.

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