Abrir puertas y ventanas

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Drei Schwestern in einem Haus

Die Großmutter ist kürzlich an einem Herzinfarkt gestorben; von den Eltern fehlt jede Spur. Die drei Schwestern Marina (María Canale), Sofía (Martina Juncadella) und Violeta (Ailín Salas) sind ganz auf sich gestellt. Aus diesem Stoff hätte man ein großes Sozialdrama machen können, welches mit Gesten tiefer Verzweiflung von der Trauer und Existenzangst der drei jungen Frauen erzählt. Doch Milagros Mumenthaler wählt in ihrem Langfilmdebüt Offene Türen, offene Fenster (so der deutsche Titel des Films, den der Verleih allerdings nur unwillig verwendet) einen anderen Weg, der auf Dramatik und Zuspitzung weitgehend verzichtet. Die Hintergründe der (Familien-)Story entbergen sich entweder en passant (zum Beispiel in einem ziemlich genervt geführten Telefonat) oder überhaupt nicht; und die Geschehnisse der Handlungsgegenwart entsprechen kaum einem klassisch gespannten Bogen, der von der Entstehung bis zur Lösung eines Konfliktes reicht. Mumenthalers Werk ist vielmehr ein Kino der Stimmungen und Blicke.
Offene Türen, offene Fenster spielt in Buenos Aires: Dort steht das große, alte Haus, in welchem Marina, Sofía und Violeta wohnen. Zwar gibt es eine Welt außerhalb des Hauses und des dazugehörigen Gartens (denn die Protagonistinnen verlassen den Schauplatz immer wieder) – von dieser Welt bekommt man als Zuschauer aber nichts zu sehen. Der Film widmet sich dem Lebensalltag der drei Schwestern im Haus; neben wenigen Randfiguren ist Francísco (Julián Tello), der Mieter des Gartenhäuschens, der einzige wichtige Co-Akteur. Auf gänzlich unplakative Weise zeigt Mumenthaler die unterschiedlichen Strategien der drei jungen Frauen, die Pre-Life-Crisis zu bezwingen. Während Marina, die älteste und vernünftigste Schwester, den mütterlichen Part übernommen hat und neben ihrem Studium dafür Sorge trägt, dass alles seine Ordnung hat und sich möglichst nichts verändert, hat Sofía die Uni verlassen und legt ein recht flatterhaftes Verhalten an den Tag. Violeta, die Jüngste, gibt sich indessen der Trägheit hin. Dass sie einen Freund hat, wissen ihre beiden Schwestern nicht; ohnehin ist das Verhältnis der drei von Geheimnissen und Argwohn geprägt.

Mumenthaler lässt in ihrer Figurenkonzeption den Versuch der Erhaltung auf den Drang nach Veränderung prallen. Was sich zunächst in kleinen Querelen äußert, nimmt an Heftigkeit zu, als sich eine der drei jungen Frauen plötzlich davonstiehlt und nur einen Abschiedsbrief sowie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlässt. Die Spannungen zwischen und innerhalb der beiden im Haus verbliebenen Schwestern entladen sich – wobei das Spiel der Darstellerinnen hier erfreulicherweise so ungekünstelt und glaubhaft wie in den zahlreichen leisen und relativ ereignislosen Szenen bleibt. In den Auseinandersetzungen zwischen den Protagonistinnen schwingt die interessante Frage mit, ob sich familiäres Miteinander und die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit gegenseitig ausschließen (müssen).

Die vergleichsweise übersichtliche Geschichte von Offene Türen, offene Fenster lebt von Momenten: Statt im Stil einer Milieustudie die genauen Lebensumstände der Schwestern bis ins Kleinste zu durchleuchten, werden zum Beispiel ein Sonnenbad im Garten, eine spontane (und doch lang ersehnte) Umarmung oder das Lauschen eines anrührenden Songs eingefangen. Da die Figuren nicht (wie in so vielen Hollywood-Werken) unentwegt Selbstanalytisches von sich geben, bleibt ihre emotionale Verfassung oft unklar. Dies macht Mumenthalers Film zu einem reizvollen Erlebnis und zu einer klugen Beobachtung spätsommerlicher Traurigkeit.

(Andreas Köhnemann)
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Während der Anfangs-Titel verharrt die Kamera außerhalb eines Gartenzauns, mit geduldigem Blick auf ein Haus. Ein junger Mann kommt ins Bild und betritt den Garten. Mit einem Schnitt nimmt Abrir puertas y ventanas die Zuschauer mit ins Haus. Und obwohl sich die nächsten 99 Filmminuten im Haus abspielen werden – die Kamera wagt sich nur ein paar Mal nach draußen in den Garten, die Blicke reichen nur selten bis hinaus auf die Straße – ist das Spielfilmdebüt der in der Schweiz aufgewachsenen Argentinierin Milagros Mumenthaler kein klaustrophobisches Kammerspiel, sondern macht auf eigenwillige, seltsam traumwandlerische Weise auf der Leinwand Räume auf: visuell und erzählerisch.

Drei junge Frauen lümmeln gemeinsam im Wohnzimmer herum. Den Besucher fertigt Sofia (Martina Juncadella) noch vor der Türschwelle ab, denn Marina (María Canale) will ihren (Ex-)Freund nicht sehen und duckt sich weg. Violeta (Ailín Salas) liegt währenddessen nur faul auf der Couch. Eine merkwürdige Lethargie liegt über der Szene. Diese ist nicht nur der Hitze des Spätsommers geschuldet, sondern vor allem dem Trauma eines Verlustes. Die drei sind Schwestern und bewohnen zusammen das große Haus ihrer verstorbenen Großmutter. Sie sind bei ihr aufgewachsen, die Eltern sind abwesend, wahrscheinlich tot.

Aber so genau erfährt der Zuschauer das nicht. Vieles erschließt sich erst nach und nach, es vergeht eine halbe Stunde, bis der Zuschauer weiß, dass die Großmutter in den Weihnachtsferien verstorben ist. Anderes, wie z.B das Schicksal der Eltern, bleibt ganz in der Schwebe. Die Details der back-story spielen auch keine entscheidende Rolle in der Filmerzählung. Milagros Mumenthaler konzentriert sich auf die Situation, in der sich die Mädchen gerade befinden. Der Film legt seinen Fokus auf die kleinen, konkreten Dynamiken, die sich zwischen den Schwestern entwickeln und schenkt seine Aufmerksamkeit den großen Themen, die mit im Raum schweben: Umgang mit Verlust, Vergangenheitsbewältigung, das eigene Leben leben. Als sich irgendwann eine der Schwestern unerwartet davon macht, gerät auch das Leben der anderen Schwestern in Bewegung.

Abrir puertas y ventanas ist eine ungewöhnliche – und ungewöhnlich poetische – Coming-of-age-Story. Die Kamera wendet sich immer wieder von den drei Hauptfiguren ab und gleitet durch die Räume und über die Hinterlassenschaften der Großmutter. Das Haus wird zum vierten Protagonisten, zu einer Seelenhülle (dabei aber nie symbolisch strapaziert), in die die Einflüsse von außen dringen, die die Schwestern nicht dauerhaft ignorieren können (das Klingeln des Telefons, der Mieter des Gartenhauses auf dem Grundstück). Im Inneren befinden sich die drei Schwestern wie in einem Schwebezustand zwischen Vergangenheit und Zukunft. Jede versucht auf ihre Weise, die Situation des Übergangs zu einem eigenen Leben zu meistern. Marina als verantwortungsvolle Studentin, die die haushaltlichen Pflichten übernimmt. Sofia kümmert sich vor allem um ihr Aussehen und ihre Klamotten, geht aus und kommt mit Geld zurück, dass sie im Kleiderschrank versteckt. Violeta driftet – meist nur in Unterhose und Top bekleidet – durchs Haus, schaut Soaps im TV, ab und zu ist ihr Freund da. Keine der Schwestern kriegt wirklich mit, was die anderen so treiben. Bei aller Nähe sind sie sich fremd. Sofia argwöhnt sogar, ob Marina nicht vielleicht adoptiert sei. Wenn sie denn mal alle zusammen sitzen, gibt es meistens Sticheleien und Gezicke – fein beobachtet und inszeniert, man merkt, dass die Regisseurin selbst mit zwei Schwestern aufgewachsen ist.

Und plötzlich ist da ein Moment von erhabener Eintracht: Wenn die drei nebeneinander auf der Couch sitzen und sich Back to Stay von Bridget St. John anhören. In einer Einstellung, fast in ganzer Länge des Songs. Zwei singen versunken mit, die dritte weint. Ein wunderbarer Kino-Moment. Milagros Mumenthaler nimmt sich Zeit für solche Augenblicke und hat dabei auch Sinn für lakonische, komische Momente (das Rüttel-Massage-Bett der Großmutter ist eine echte Entdeckung). Dabei vertraut die Regisseurin auf die ruhigen, in Licht und Schatten schwelgenden Bilder ihres Kameramanns Martín Frias und baut aus Blicken und Sicht-Achsen durch Türen, Fenster und Spiegelungen wundervoll organische Szenen, in denen sich das Leben der drei Schwestern über ein halbes Jahr verdichtet zu einem Film, der sich Geheimnisse bewahrt und gerade dadurch viel zu erzählen weiß. Denn die Leerstellen, die die Narration bewusst setzt, bieten Raum, um die Geschichte Argentiniens nachhallen zu lassen: Zu Zeiten der Militärdiktatur sind Kinder, die Regimegegnern weggenommen wurden, zwangsadoptiert worden und Kinder, deren Eltern dem Regime zum Opfer gefallen sind, bei ihren Großeltern aufgewachsen.

Abrir puertas y ventanas wurde schon 2011 in Locarno mit dem Goldenen Leoparden und dem FIPRESCI Award ausgezeichnet. Auf dem Filmfest in München erhielt er nun den Preis für den besten Nachwuchsfilm aus dem Ausland. Ein wirklich bemerkenswertes, narrativ ungewöhnliches und stilistisch äußerst reifes Spielfilmdebüt.

Abrir puertas y ventanas

Die Großmutter ist kürzlich an einem Herzinfarkt gestorben; von den Eltern fehlt jede Spur. Die drei Schwestern Marina (María Canale), Sofía (Martina Juncadella) und Violeta (Ailín Salas) sind ganz auf sich gestellt. Aus diesem Stoff hätte man ein großes Sozialdrama machen können, welches mit Gesten tiefer Verzweiflung von der Trauer und Existenzangst der drei jungen Frauen erzählt.
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