Above and Below (2015)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Die im Dunkeln sieht man doch

Unkonventionell ist die erste Vokabel, die einem einfällt, wenn man sich gut zwei Stunden lang auf Nicolas Steiners Above and Below einlässt: Unverbrauchte Bilder, die zu „mindestens 20 Prozent bewusst gestaltet“ worden sind, wie der junge Regisseur bereits auf zig Festivals (u.a. hot docs in Toronto, DOK.fest in München, DOC in New York, Karlovy in Tschechien, IFFR in Rotterdam) freimütig zugab. In einer schier überwältigenden Sequenz mit unzähligen Tischtennisbällen, die sich durchaus als eine Hommage an die „Bilder ekstatischer Wahrheit“ (Werner Herzog) verstehen lässt und sich gekonnt vor der filmhistorisch bahnbrechenden Blutströme-Einstellung in den Gängen des Overlook-Hotels in Stanley Kubricks The Shining verneigt, gelingt Steiner reinstes, überwallendes Bilder-Sturm-Kino. Diese Bilder bleiben noch Stunden nach dem Kinobesuch in Körper und Geist verankert. Vielmehr noch: dieses tausendfache Weiß in Ball-Form inmitten des schwarzen Dunkels berührt auf merkwürdige Weise sehr tief, sehr anhaltend und bebildert ebenso raffiniert wie abstrakt die extreme Kontrasthaftigkeit des gesamten Films.

Die Tischtennisbälle schwimmen oberhalb einer dunklen Brühe aus Wasser und Schmutz in einem unterirdischen Tunnel. Oberhalb dieser endlos lang wirkenden Schächte voller Schmutzwasser liegt die Disneyland-and-money-Oberflächenwelt von Las Vegas. Unterhalb vegetieren – vollkommen absorbiert von dem, was man gemeinhin Realität bezeichnet – lediglich die Obdachlosen, oft Kriminellen oder stark Drogenabhängigen, deren American-Dream-of-Life eben nicht in Erfüllung gegangen ist. Lalo, Rick und Cindy sind drei jener Outlaws, denen sich Nicolas Steiners Regieblick annimmt.

„Ich bin Filmemacher, kein Sozialarbeiter“, unterstrich er auch noch mal bei der Präsentation von Above and Below im Rahmen der Lola-Screenings während der 66. Berlinale seinen eigenen Kunstanspruch als Filmemacher. Zum Glück, würden ihm daraufhin sicherlich viele Zuschauer attestieren. Denn ansonsten hätte dieser herausragende künstlerische Dokumentarfilm, der seinen eigenen fiction-meets-reality-Gestus an keiner Stelle verleugnet, sehr schnell zu einem rührseligen Unterweltendrama geraten können. Trotzdem ist Steiners Grundinteresse für seine mitunter bizarren Protagonisten von Grund auf ehrlich. Er inszeniert sie nicht als gefallene Paradiesvögel und verweigert ihnen sogar den eigentlich erwartbaren Opfer-Status: (Ex-)Junkies wie Rick und Cindy, (Ex-)US-Army-Sanitäter wie Dave und (Ex-)Soldatinnen wie April, die im Horror des Irak-Kriegs „arbeiteten“ – so wird das in der amerikanischen Militärsprache zynisch genannt – und jetzt bei der NASA tatsächlich arbeiten. Das wäre einzeln betrachtet schon genügend Stoff für ausführlichere Betrachtungen auf der Leinwand wie intimere Untersuchungen im Umkreis der einzelnen Protagonisten. Doch Nicolas Steiner (Kampf der Königinnen) schert sich erst gar nicht darum, diesen Unterweltlern im Wortsinne zu viel Eigenleben im fertigen Film zuzugestehen, was Above and Below natürlich auf narrativer Ebene fast permanent angreifbar macht, formal-ästhetisch jedoch deutlich weniger.

Unerhörte Klänge sind es zudem, die diesen außergewöhnlichen, keinem Genre zugehörigen Film zu einer ganz besonderen Erfahrung machen, die zwingend allein auf größtmöglichen Leinwänden und nur im Verbund mit guten Soundanlagen wirklich erlebbar wird. Wer gerade keine anständige Heim-Kino-Anlage zur Hand hat, wird vielleicht (zu) schnell aussteigen – und die Herzen des Komponisten-Kollektivs Paradox Paradise bluten lassen. Schließlich haben John Gürtler, Lars Voges und Jan Miserre für die erneute Zusammenarbeit mit Nicolas Steiner abermals ein großes-kleines Dokumentarfilmtabu durchbrochen: 50 Minuten Originalmusik, zum Teil schon vor dem Dreh komponiert oder in Auszügen wiederum extra zum Dreh mitgenommen.

Die zweifellos renommierte, aber – nun ja – Altgarde um beispielsweise Marcel Ophüls oder Frederick Wiseman hätte den Dreien dafür sicherlich ebenso leidenschaftlich auf die Musikerfinger gedroschen: Nix Verité, Cinéma Musiqualité heißt diese neue, von Steiner und seinen Mitstreitern initiierte dokumentarische Arbeitsweise. Wer sich darauf einlassen kann, wird höchste Ekstase spüren (können): Fast eine Stunde lang, nur mit kürzeren Unterbrechungen. Mit ihrem collagiert-experimentellen, sehr freigeistigen Score, der im letzten Jahr mit dem Preis für die beste Filmmusik in einem Dokumentarfilm auf dem 30. DOK.fest München ausgezeichnet wurde, betritt diese engagierte Künstlertruppe musikalisches Neuland: Flirrend, brennend, berauschend. Sie sorgt dafür, dass man sich Above und Below im Prinzip auch erhören kann, gerade wenn einen die exaltierte Bildsprache manchmal förmlich erschlägt.

Jener ausgefallene OST für Steiners Film ist mittlerweile sogar im Handel erhältlich, was ebenfalls nicht gerade üblich ist in der manchmal immer noch ein wenig zu puristisch denkenden Dokumentarfilmbranche weltweit. Diese Originalmusik bündelt dramaturgisch geschickt die stärksten Bildmomente – wie zum Beispiel die gemeinsame Achterbahnfahrt der Obdachlosen Rick und Cindy, nachdem ihnen die Flut all ihr Hab und Gut aus dem Tunnel weggeschwemmt hat – und sorgt zugleich dafür, dass Steiners Film zeitweise wirklich abhebt.

Was sich wiederum im dritten, sehr positiven Aspekt des Films widerspiegelt: In den unverbrauchten Gesichtern, denen das Kameraauge von Markus Nestroy vor allem Würde schenkt. Mehrfach scheut er es nicht – genauso wie sein Regisseur – diese ausgestoßenen, im wahren Sinne nicht auf der Erde, sondern darunter lebenden Protagonisten visuell sogar zu überhöhen, ohne sie jedoch als bloßes „Spielzeug“ vor der Linse zu missbrauchen. Wenn beispielsweise der solitäre Outlaw Lalo, der gleichfalls in den Flutkatakomben lebt und sich „The Godfather“ nennt, anfängt, „Halleluja“ zu singen, schimmert plötzlich in der Dunkelheit auf seiner ledergegerbten Haut etwas Einzigartiges, Unbezahlbares besonders hell hervor: ein ungeheurer Lebenswille.

Der gleiche Effekt in einer Szene mit Dave, der sein Dasein auf einer verlassenen Militärbasis im Nirgendwo einer US-Wüste fristet, ohne Job, ohne Besitz – und momentan auch wieder ohne Frau. Bis er für sich selbst erkennt, dass er wieder unter Menschen gehört. Im nächsten Schritt lohnt es sich eben doch, sich selbst, das Leben und vor allem auch andere soziale Wesen ein zweites Mal zu entdecken – nach Jahren als gesellschaftlicher Solitär. Auf einem improvisieren Musikfest in the middle of nowhere lernt er schließlich seine „Neue“ kennen, zumindest eine Geliebte. Kein schlechtes Zeichen für einen echten Neustart, den Nestroys Kamera feinfühlig einfängt.

Um das fluide Gesamtpaket namens Above and Below greifbar machen zu können, muss im letzten Teil dieser Kritik unbedingt ein Wort zu Kaya Inan fallen. Nach seinem zehnmonatigen(!) Schnitt-Trip mit Steiner hat er inzwischen seine markante Handschrift und hohe Begabung als Editor bei Wintergast und zuletzt bei Heimatland ein weiteres Mal deutlich unterstrichen. So famos-fordernd, nicht immer rund, aber durchweg überraschend, sind heute wenige Filmwerke montiert.

Mit demselben Mut zum Einreißen von Mauern in den Köpfen der Kritiker wie des Publikums geht wirklich nicht jeder Cutter ans Werk: Jump Cuts sind hier keine Seltenheit. Assoziative Ketten werden früh aufgebaut und erst sehr spät wiederaufgenommen, bis am Ende sogar die Bilder auf dem Kopf stehen! So ereignisreich und hoch interessant gelingt ihm dies speziell in den Episoden des fingierten NASA-Übungsgeländes irgendwo im roten Wüstensand an der Westküste der USA, wo April als Forscherin tätig ist. Mehrfach werden an dieser Stelle vertraute Seh- und Hörgewohnheiten lustvoll zertrümmert, wird mit Erwartungen gespielt, die im nächsten Schnitt – und auch später noch – zum Teil nie vollends eingelöst werden: So künstlerisch kann zeitgemäßes Dokumentarfilmkino aussehen. Ist eben alles eine Frage der Einstellung.
 

Above and Below (2015)

Unkonventionell ist die erste Vokabel, die einem einfällt, wenn man sich gut zwei Stunden lang auf Nicolas Steiners „Above and Below“ einlässt: Unverbrauchte Bilder, die zu „mindestens 20 Prozent bewusst gestaltet“ worden sind, wie der junge Regisseur bereits auf zig Festivals (u.a. hot docs in Toronto, DOK.fest in München, DOC in New York, Karlovy in Tschechien, IFFR in Rotterdam) freimütig zugab.

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