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„37 Seconds“, der neue Film von Hikari, ist ein Film über die Emanzipation einer jungen Frau von ihrer Mutter, über Anerkennung und Selbstverwirklichung.

37 Seconds (2019)

Eine Filmkritik von Bianka-Isabell Scharmann

Auf den Schwingen des Silberreihers

Es gibt nicht viele Symbole in „37 Seconds“, dem neuen Film der japanischen Regisseurin und Produzentin Hikari. Eines jedoch ist recht wichtig, auch wenn es erst fast am Schluss des Films auftaucht: Yuma (Mei Kayama) beobachtet aus dem Zugfenster heraus einen aufsteigenden Silberreiher. Wir folgen ihrem Blick und dem Flug des Vogels und fühlen mit Yuma die in ihr sich ausbreitende Freiheit. Die Flügel, die sie gelernt hat, im Verlauf des Films selber auszubreiten und sich auf deren Stärke zu verlassen. Und noch etwas ist wichtig: Der Silberreiher oder Heron steht für Selbstvertrauen und Eigenverantwortlichkeit. So ist dann auch „37 Seconds“ ein Film über diese Themen: über die Emanzipation einer jungen Frau von ihrer Mutter, über ihre Suche und den Weg hin zu einem selbstbestimmten Leben.

37 Seconds, so lange hat Yuma nach der Geburt nicht geatmet. Es sind diese 37 Sekunden, die ihr Leben auf entscheidende Weise geprägt haben. Denn Yuma lebt mit Zerebralparese: sie sitzt im Rollstuhl, da sie sich ohne ihn nur auf Händen und Knien fortbewegen kann. Zu Beginn des Films lebt sie auch noch mit ihrer Mutter Kyoko Takada (Misuzu Kanno) zusammen, deren Fürsorge oftmals in übergriffiges Verhalten umschlägt. Von Anfang an ist unklar, wer hier wen eigentlich mehr braucht.

Yuma ist Zeichnerin, sie arbeitet zusammen mit ihrer Cousine Sayaka (Minori Hagiwara) an einem gemeinsamen Manga. Es gibt dann auch einige Bilder des Films, die das Motiv des Zeichnens aufgreifen: wenn etwa die Menschen auf einer Postkarte plötzlich in Bewegung geraten, sich Personen und Formen verändern und leinwandfüllend zu sehen sind. Oder aber die großartige Animation des Mangas, den Yuma wie im Rausch zu zeichnen scheint. Vor allem über die Bilder bekommen wir Zugang zu ihrer Sicht der Welt, eben der einer visuellen Künstlerin. So hält sie ihre Reise nach Thailand auch nicht in digitalen Fotografien, sondern in Zeichnungen fest. Yuma spricht nicht viel, da es ihr oftmals auch schwer zu fallen scheint. Oder aber und das scheint oftmals plausibler, scheinen die Menschen um sie herum kaum Zeit zu haben, sie aussprechen zu lassen und ihr wirklich zuzuhören. Eine Ausnahme ist Toshi (Shunsuke Daito): In den Gesprächen mit ihm bekommen auch wir Einblick in Yumas Innenleben, welches ansonsten oftmals nur in feinen Regungen ihres Gesichts sich widerzuspiegeln scheint.

Ableismus ist das Pendant zu Rassismus, Sexismus und all den anderen -ismen: Menschen auf ihre Behinderung zu reduzieren, sie abzuwerten oder aufgrund der Behinderung aufzuwerten, dass sie trotz dieser etwas schaffen. Yuma ist in ihrem täglichen Leben genau mit dieser Wahrnehmung ihrer selbst konfrontiert. Für Sayaka ist sie „nur“ eine Assistentin und keine gleichberechtigte Partnerin, die nur dann existiert, wenn es ihr passt und aber nicht zur Signierstunde für das gemeinsame Manga darf. Dort plötzlich aufgetaucht, ignoriert Sayaka sie. Als dann Yumas eigener Manga von dem gemeinsamen Agenten abgelehnt wird, da er zu sehr dem Stil Sayakas gleiche und sie doch ihren eigenen entwickeln sollte, fällt ihr Blick auf weggeworfene Erotik-Mangas. Zuhause beginnt sie, an einem neuen Projekt zu arbeiten. Es ist dann auch die Herausgeberin einer der Zeitschriften, die Yuma als Künstlerin sieht – und nicht zuerst ihre Behinderung. Ihr Feedback schickt Yuma auf eine (fast) fantastische Reise: sie erforscht ihre Sexualität, inklusive Tinder-Dates und Bordell-Besuch, sie lernt neue Freunde kennen und trifft schließlich auf den schon erwähnten Toshi, mit dem sie dann ein Rätsel ihrer familiären Vergangenheit für sich und die Zuschauer*innen auflöst.

Man könnte bemängeln, dass man es Yuma im Film verwehrt, eine romantische Beziehung zu finden, um damit „ein Zeichen“ zu setzen. Doch der Anspruch des Films ist es eben, die Emanzipation einer jungen Frau zu schildern, ihr Weg raus aus dem Überbehütetsein, zu erkunden, wie sie selbst-wirksam ihr Leben gestalten kann. Dass sie es kann. Zwar mit Hilfe, die sie im Verlauf des Films auch lernt besser anzunehmen und einzufordern. Aber mit erhobenem Kopf. Denn man sieht die Veränderung in der Körperhaltung Yumas. Muss ihre Mutter sie anfangs noch darauf hinweisen, sich nicht zu klein zu machen, so sehen wir sie am Schluss mit aufrechtem Oberkörper.

Neben dem universellen Anspruch, den der Film verfolgt, muss er auch im Kontext der japanischen Gesellschaft selbst gesehen werden. In 2016 ereignete sich in der Kleinstadt Sagamihara eine Tragödie: ein 26-jähriger Mann tötete 19 Menschen und verletzte 24 während einem Amoklauf in einem Heim für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Obwohl es ein kurzes Aufleben einer Diskussion gegen die Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung in Japan gab, so hat dies vielerorts wohl kaum spürbare Konsequenzen nach sich gezogen. Denn noch in 2018 machten Ministerien und Behörden falsche Angaben über die tatsächliche Beschäftigungsrate von Menschen mit Behinderung: 2,5% sollten es sein, 1,19% sind es wohl wirklich gewesen. Auch deswegen ist dieser Film so wichtig und vor diesem Hintergrund muss man auch einige Bemerkungen im Film verstehen: wie etwa, wenn eines von Yumas Dates sagt, er hätte nie gedacht, dass er sich bei Leuten mit Behinderung wohlfühlen könnte.

37 Seconds begegnet seiner Protagonistin auf Augenhöhe. Ein fast episodischer Film, der in klaren, ruhigen Bildern mit einnehmendem Soundtrack operiert, der Yuma und ihren vielen Erfahrungen folgt bis hin zu einem Gefühl der Freiheit, der Anerkennung und Selbstverwirklichung. Yuma begegnet ihrem inneren Heron und entdeckt die Kraft der eigenen Flügel. Sie findet Vertrauen und setzt zum Flug an.

37 Seconds (2019)

HIKARI, auch bekannt als Mitsuyo Miyazaki, erzählt von Yuma, einer jungen japanischen Frau, die unter zerebraler Bewegungsstörung leidet und zwischen Manga-Zeichnen und Familie um Selbstbestimmung ringt.

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