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In Frankreich müssen Patienten, die sich unfreiwillig in psychiatrischen Kliniken befinden, nach spätestens 12 Tagen einem Richter vorgeführt werden. Er soll im Gespräch beurteilen, ob sie gegen ärztliche Empfehlung entlassen werden dürfen.

12 Tage (2017)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Zwangsbehandlung und psychischer Schmerz

Die Menschen, über deren Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie in diesem Film entschieden wird, sind verletzlich. Das liegt nicht nur an ihrer psychischen Not, die oft schon in ihren ersten Worten aufscheint, sondern auch am dünnen Faden, der sie noch mit dem Recht auf Selbstbestimmung verbindet. Schon die erste der 10 Anhörungen, bei denen sich PatientIn und RichterIn gegenübersitzen, wühlt enorm auf. Der Regisseur Raymond Depardon setzt in diesem Dokumentarfilm auf ruhige Aufnahmen und eine nüchterne Beobachtungsposition, wodurch sich paradoxerweise die Emotionen bei Beteiligten und Betrachtern umso freier entfalten können.

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Der 1942 geborene französische Regisseur und Fotograf Depardon hat sich bereits in den 1980er Jahren mit dem Themenkomplex Psychiatrie befasst, in seinen Dokumentarfilmen San Clemente und Urgences. Nun bekam er als erster Filmemacher in Frankreich die Erlaubnis, richterliche Anhörungen in der Psychiatrie zu filmen, wie sie ein Gesetz von 2013 vorschreibt. Alle PatientInnen, die gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden – in Frankreich betrifft das über 90.000 Personen im Jahr –, müssen spätestens nach 12 Tagen einem Richter vorgeführt werden. Sie erscheinen in Begleitung eines Anwalts, die behandelnden Ärzte sind nicht zugegen, haben aber die Begründungen vorgelegt, warum sie gegen eine Entlassung zum jetzigen Zeitpunkt sind. Wird der weitere Aufenthalt richterlich abgesegnet, muss es alle 6 Monate wieder eine Anhörung geben. 

Der Anhörungssaal befindet sich in einer Klinik in Lyon, deren Gänge hell und freundlich-neutral wirken. Die Besonderheit des Ortes wird eher durch die hohen Metallzäune charakterisiert, die das Gelände umschließen. Wenn die Kamera zwischen den juristischen Terminen durch die Gänge streift oder einzelne Patienten beim Hofgang betrachtet, erklingt sanft gefühlvolle Musik von Alexandre Desplat. Im Anhörungssaal selbst führt der Film seine ZuschauerInnen durch ein Wechselbad der Gefühle, das sicherlich sehr individuell verläuft, aber verschiedenen Phasen zu folgen scheint. 

Zunächst blickt man hoffnungsvoll auf das Geschehen: Hier geht es um einen Patienten und seine Rechte, es könnte sich herausstellen, dass diese Person zu Unrecht hier festgehalten wird. Wenn sich der Richter oder die Richterin – 2 Männer, 2 Frauen entscheiden abwechselnd – an den einzelnen Patienten wendet, beginnt ein freundlich geführtes Gespräch auf Augenhöhe. Die Betroffenen sollen selbst sagen, warum sie hier sind, wie sie ihre Lage beurteilen, ob sie bleiben wollen. Die meisten wollen entlassen werden, haben aber Mühe, sich zu konzentrieren, gefasst und kooperativ zu wirken. Wahnhafte Gedanken machen sich bemerkbar. 

Es beschleunigt Herzschlag und Atem, zu erleben, wie Menschen um ihre Wahrnehmung der Realität kämpfen und sich dabei ins Abseits begeben. Es liegt nun am Richter, seinem Gegenüber zu erklären, warum er die Entlassung verweigert. Regelmäßig wird dieser Teil der Anhörung zur Zerreißprobe. Ein Patient beginnt sich selbst zu beschimpfen, er werde hier festgehalten, weil er nicht rechnen könne, weil er ein Verlierer, ein Dummkopf sei. Als er hinausgeht, meint man, auf dem Gesicht des Richters einen Ausdruck von Schmerz zu erkennen.

In der zweiten Phase des filmischen Erlebens nimmt man dann wahr, wie standardisiert die Anhörungen ablaufen. Die Befragten offenbaren unfreiwillig ihren Behandlungsbedarf, dann soll ihr Anwalt kurz Stellung nehmen. Auffallend oft hat er keinerlei Einwände gegen den weiteren Aufenthalt. In der dritten Phase des Beobachtens differenziert man, sucht nach eigener Orientierung. Es gibt Richter, die sympathischer wirken als andere, Anwälte, die interessierter als andere sind.

In diesen Verhandlungen scheint die Not der psychisch Kranken, aber auch die Not der Gesellschaft mit ihnen auf. Etliche der Patienten befinden sich schon lange in der Klinik. Manche fühlen sich verschaukelt, wenn sie erkennen, dass ihr Wort auch bei der Anhörung nicht so viel Gewicht hat wie die Beurteilungen der Ärzte. Für die Richter geht es gar nicht um die Qualität der Behandlung. Aus einzelnen Äußerungen ist zu entnehmen, dass sie vor allem medikamentös verläuft. Wenn dann Patienten verzweifelt fragen, wie lange das hier für sie so weitergehen soll, scheint die ganze Tragik ihres Schicksals auf. 

Diese Fälle haben viel mit Fallen zu tun, dem Verlust bürgerlicher Sicherheit und Integrität. Eine Psychiatrie scheint im Hintergrund auf, die noch viel zu sehr verwahrt und zu wenig Räume eröffnet, in denen Menschen ihre Kompetenzen und gesunden Anteile wieder stärken können. 

12 Tage (2017)

Spätestens 12 Tage nach Ankunft in der geschlossenen psychiatrischen Anstalt müssen Patienten dem Gericht präsentiert werden. Hier stehen sich nun ein Richter und ein Patient gegenüber. Zwischen ihnen nichts als der Dialog, der über Freiheit und den weiteren Lebensverlauf entscheiden wird.

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