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Rund 40 Jahre später lesen Frauen unveröffentlichte Leserbriefe, die einst an die feministische Zeitschrift „Ms. Magazine“ geschickt wurden. Irene Lusztigs „Yours In Sisterhood“ eröffnet ein Panorama unterschiedlichster Lebensrealitäten und Überzeugungen.

Yours in Sisterhood (2018)

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Mehr als ein Weg

„There is more than one way to be a feminist“ heißt es einmal in „Yours In Sisterhood“ und kaum ein Film bringt diese Botschaft deutlicher auf die große Leinwand als dieses feministische Kinomanifest von Irene Lusztig. Dabei verkündet niemand darin irgendeine Agenda. Vielmehr formiert sich ein vielstimmiger Chor unterschiedlichster Lebensrealitäten und Anschauungen.

Für Yours In Sisterhood ist Lusztig zwei Jahre lang durch die Vereinigten Staaten von Amerika gefahren, war in Großstädten wie San Francisco, vor allem aber in kleinen Ortschaften unterwegs: im Bible-Belt, im Rust Belt, im Mittleren Westen. Dort filmt sie Frauen, die Briefe vorlesen. Unveröffentlichte Leserbriefe, verfasst zwischen 1972 und 1980 für das Ms. Magazine, die 1972 von Gloria Steinem und Dorothy Pittman Hughes gegründete, erste liberal-feministische Mainstreamzeitschrift der USA. Voll frontal stehen all diese Frauen vor der Kamera, lange, starre Einstellungen, und geben diesen anderen Frauen eine Stimme, die vor rund 40 Jahren ihre Gefühle, ihre Zustimmung, oft ihren Frust, ihre Ängste, ihren Ärger in Worte fassten. Gelegentlich sind es auch die Frauen von damals, die nun, Jahrzehnte später, mit den Formulierungen ihres jüngeren Selbst konfrontiert sind. Nachdem sie die Briefe zu Ende gelesen haben, bleiben sie noch einen Augenblick stehen, schauen still in die Kamera, oft läuft es einem dann kalt den Rücken herunter.

Irene Lusztig macht ihre Aufnahmen an ganz alltäglichen, uramerikanischen Orten: Diners, Straßenkreuzungen mit heruntergekommenen Billboards, Parkplätze, Kirchen, Fabriken, oft in Vorgärten mit akkurat zurecht gestutztem Rasen. Orte, die in ihrer Unscheinbarkeit tagtägliche Schauplätze von sexistischen und rassistischen Vorfällen sein könnten, es womöglich auch sind. Die zumindest aber für die Gleichgültigkeit großer Teile der Gesellschaft gegenüber struktureller Ungerechtigkeit stehen, egal wie schwer Einzelne damit zu kämpfen haben. Tatsächlich wird sehr intensiv gerungen in Yours In Sisterhood. Nicht alle Leserinnen stimmen mit den im Ms. Magazine veröffentlichten Texten überein, einige drohen ihre Abonnements zu kündigen. Und nicht alle Frauen im Film stimmen mit den Verfasserinnen der Briefe überein.

Die ersten verlesenen Briefe handeln von Problemen, mit denen sich viele identifizieren können: Frauen äußern ihren Frust über Catcaller und andere Aufdringlichkeiten, über die Schwierigkeit bei Karrieren in sogenannten Männerdomänen Fuß zu fassen, im Haushalt und bei der Kindererziehung kaum Hilfe von ihren Ehemännern erwarten zu dürfen, über vorgetäuschte Orgasmen und unbefriedigte Sexualität. Später werden die Wortmeldungen zunehmend partikular, geben Einblick in die Spannungen innerhalb des Feminismus: Weiße, die blind für die Erfahrungen von People Of Color sind. „It’s always about us coming to them,“ erklärt eine ältere Frau mit wissendem Lächeln. Menschen mit Beeinträchtigungen und LGBTQIA-People, die sich im Ms. Magazine nicht wiederfinden. Frauen, die davon berichten, wie sie mit ihrer Mastektomie umgehen, die von ihrem Leben im Gefängnis berichten, die ihre ganze Familie verloren haben, weil der Strahlenschutz für Angestellte in Nuklearanlagen nicht zu den Prioritäten der Arbeitgeber gehörte.

Oft packt einen beim Zuhören die Wut, weil sich seit den 1970er Jahren scheinbar so wenig verändert hat. Weil der Ku-Klux-Clan und die Naziparteien, über die sich eine Briefeschreiberin entrüstet, auch Jahrzehnte später wieder unheimlich präsent sind. Weil Frauen durchschnittlich noch immer weniger verdienen als Männer. Weil es eben kein Naturgesetz ist, das mit voranschreitender Zeit alles schon irgendwie von selbst besser wird. Und es so vielen Individuen dennoch gelungen ist, in dieser Zeit über sich hinaus zu wachsen.

Zuversicht stiften all die verschiedenen Gesichter, die Irene Lusztig mit ihrer Kamera festhält. Die unzähligen Geschichten hinter den Gesichtern. Das Selbstbewusstsein, das viele der Frauen beim Lesen gewinnen, wenn sie richtig aus sich herausgehen, regelrecht performen, sichtlich gerührt sind oder in Rage geraten. So viel Stärke, so viel Wissen und Bewusstsein. Eine Dreizehnjährige mit Wuschelhaar und Marvelshirt, die leicht stockend das Gedicht einer ihrer Vorgängerinnen liest, kurz darüber nachdenkt und plötzlich super profunde Dinge sagt. Irene Lusztig selbst, die diesen Schatz gehoben, Frauen eine Stimme gegeben hat, deren Ansichten drohten, in dunklen Kisten dem Vergessen anheimzufallen. Die als Regisseurin und Produzentin, als Kamerafrau und Cutterin zugleich ein derart sicheres Gespür dafür hat, die visuell und konzeptuell letztlich immer gleichen Sequenzen so aneinander zu reihen, dass man fremden, lesenden Frauen anderthalb Stunden lang an den Lippen hängt.

Yours in Sisterhood (2018)

Auf den ersten Blick sind es unscheinbare Orte, an denen Irene Lusztig auf ihrer zweijährigen Reise durch die USA mehrheitlich Frauen bittet, Leserbriefe vorzulesen und zu kommentieren, die aus dem Archiv der liberal-feministischen Zeitschrift „Ms.“ stammen. Geschrieben vor ungefähr 40 Jahren, zumeist von Frauen, die in der Zeitschrift erschienene Artikel zum Anlass nahmen, von sich zu erzählen – offenherzig, privat, oft erleichtert, manchmal erbost. In den Briefen geht um Schwangerschaftsabbrüche, um lesbische Liebesaffären von verheirateten Frauen, um die Ignoranz des Magazins gegenüber Lebenswirklichkeiten schwarzer Frauen…

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