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In ihrem erschütternden Debüt erzählt die frühere Journalistin Dina Amer von zwei Schwestern, die in zerrütteten Verhältnisse aufwachsen und deren Lebenswege sich trennen. Es ist auch die Geschichte einer Suche nach einem Platz im Leben und der Gesellschaft, die schließlich in einer Radikalisierung endet. 

You Resemble Me (2021)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Hybride Suchbewegungen einer Ausgestoßenen

„Du siehst aus wie ich!“ — „Nein, du wie ich!“ Immer wieder stehen am Anfang von Dina Amers Debütfilm „You Resemble Me“ Wortgefechte wie diese zwischen den beiden Schwestern Hasna (Lorenza Grimaudo) und Mariam (Ilonna Grimaudo). Doch es sind keine ernsthaften Streitereien, sondern vielmehr der Ausdruck einer tiefen Verbundenheit zwischen den beiden Mädchen, die einander genau jener Halt sind, den ihnen ihre Familie und vor allem ihre Mutter nicht geben kann. Und so ist die ältere Hasna für ihre kleine Schwester eine Art Mutterersatz und zugleich damit natürlich heilllos überfordert: Sie ist es, die an den Geburtstag von Mariam denkt und Geschenke für sie besorgt, die die Mutter am liebsten gleich wieder verhökern würde, sie ist es, die irgendwann die Kleine packt und mit ihr Reißaus nimmt, um sie dem Zugriff der ebenso überforderten wie offensichtlich psychisch erkrankten Mutter zu entziehen. Doch natürlich kann auch Hasna das Unvermeidliche nicht verhindern: Die beiden herumstreunenden Mädchen werden aufgegriffen und — weil das Jugendamt nicht zum ersten Mal einschreitet — in getrennten Pflegefamilien untergebracht. 

Mutet der Film in diesem ersten Teil wie ein Sozialdrama an, das an Vorbilder wie den freilich auf den ersten Blick viel epischeren Capernaum — Stadt der Hoffnung von Nadine Labaki oder Mustang von Deniz Gamze Ergüven, so beginnt spätestens mit dem Zeitsprung, der die Geschichte und das Publikum ins Jahr 2015 führt, ein ebenso mutiger wie abrupter Wechsel, in dem der Film — nicht zu letzten Mal übrigens — jäh seinen Fokus, seine Tonalität und seine Zielrichtung verändert. 

Die Zerrissenheit(en), die You Resemble Me zeigt und zwischen denen er sehr bewusst operiert, sowie die Brüche, die das Werk sichtbar werden lässt, machen es zweifellos zu einer echten Herausforderung für das Publikum. Allerdings zu einer, die sich lohnt. Der wilde, assoziative Rhythmus und das ständige Gefühl einer allgegenwärtigen Gefahr, dazu eine hektisch-fahrige Handkamera, die sich immer wieder in Details verliert und so kaum je einen Überblick über das Geschehen zulässt, erlauben kaum je einen Moment der Kontemplation oder des Verweilens. Und auch später wird die deutlich sichtbare Leerstelle, die der Abbruch der geschwisterlichen Beziehung für die Protagonistin bedeutet, niemals gemildert oder erklärt, es müssen hierfür knappe Szenen reichen, die zeigen, wie Hasnas Versuche einer telefonischen Kontaktaufnahme immer wieder ins Leere laufen. Aus einer scheinbar unlösbaren Verbindung zwischen zwei Schwestern wird so eine klaffende Wunde, unter der Hasna entsetzlich leidet, eine Verlust, der nicht wiedergutzumachen ist.

Wie für sie, so verschwindet Mariam auch für das Publikum bis zum bitteren Ende einfach von der Leinwand. Zurück bleibt Hasna, die zwischen einem Job in einem Burger-Imbiss, wilden Party-Nächten und dem Leben in den Sozialen Netzwerken zersplittert und sich selbst verliert. Es sind Fragmente einer brüchig gewordenen Existenz der eine Mitte fehlt — und so erscheint es aus dieser Logik heraus nur folgerichtig, dass Hasna nun nicht mehr von einer Darstellerin, sondern gleich von dreien, einander zwar ähnelnden, aber dennoch klar  unterscheidbaren Schauspielerinnen (darunter auch die Regisseurin selbst)  gespielt wird — dies aber ist so fein und punktgenau inszeniert, gespielt und geschnitten, dass die erwähnten Wechsel beinahe unsichtbar vor sich gehen und so immer wieder für kurze Momenten der Irritation sorgen.

Über Hasnas weiteren Weg auf ihrer verzweifelten Suche nach Identität und Zugehörigkeit, der auf einem realen Fall beruht, sei indes nicht allzu viel im Detail verraten, nur soviel: In einem Schwenk vom Fiktionalen ins Reale nutzt Dina Amer den Film auch, um mit einem Missverständnis bzw. einer Falschinformation über die echte Hasna aufzuräumen. Wie viele andere Journalist*innen, so berichtete auch Dina Amer, damals als Berichterstatterin für The Vice vor Ort, fälschlicherweise davon, dass die reale Hasna Aït Boulahcen die erste Selbstmordattentäterin des IS auf europäischem Boden gewesen sei. Später sollte sich herausstellen, dass nicht sie die Bombe zündete, sondern ihr Cousin Abdelhamid Abaaoud, der mittlerweile als Drahtzieher und eigentlicher Kopf hinter den verheerenden Attentaten auf das Stade de France und das Bataclan gilt bzw. ein weiterer Komplize.

Insofern ist dieser Film nicht nur eine erschütternde und harsche Sozialstudie, sondern ganz gewiss auch der Versuch einer Wiedergutmachung und einer Neubewertung eines Lebensweges, der uns nur auf den ersten Blick fremd und unverständlich erscheint. Nach diesem Film aber glauben wir — berührt und zutiefst ergriffen, — ein wenig mehr davon zu verstehen, wie es zu Konstellationen kommen kann, die wir sonst brüsk als unverständlich und nicht nachvollziehbar weit von uns weisen. 

You Resemble Me (2021)

In der ägyptisch-französisch-US-amerikanischen Koproduktion, flieht ein Mädchen von zu Hause, wird erwachsen und droht, sich auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben zu verlieren.

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