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Nach dem Western „The Sisters Brothers“ musste es ein Großstadtfilm sein. Also drehte Jacques Audiard in Paris und statt in Farbe in Schwarz-Weiß. Mit Woody Allens „Manhattan“ im Hinterkopf ist ihm eine komplexe Liebesgeschichte geglückt, die sich einfach anfühlt.

Wo in Paris die Sonne aufgeht (2021)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Die Liebenden vom 13. Arrondissement

Wie sieht die Liebe im Digitalzeitalter aus? Wie kann sie in einer Millionenmetropole wie Paris mit ihrem Überangebot an Liebeshungrigen gelingen? Jacques Audiards neuer Film gibt eine ausgesprochen analoge Antwort darauf: Trotz aller Virtualität entscheidet am Ende das Körperliche. Ein kleines Meisterwerk voll sehnsüchtiger Blicke, zärtlicher Berührungen und berührender Momente.

Die Liebe in diesem Film lässt einen buchstäblich aus den Latschen kippen. Wenn Nora (Noémie Merlant) ihrer Internetbekanntschaft Amber Sweet (Jehnny Beth) das erste Mal von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, geht sie ohnmächtig zu Boden. Monatelange Videotelefonate konnten sie nicht auf diesen Moment vorbereiten. Angesichts einer realen Begegnung verblasst jede digitale Kommunikation. Jacques Audiards neuer Film ist reich an solchen Szenen, in denen die pure Freude des Physischen obsiegt.

Schon der Auftakt ist großartig. Émilie (Lucie Zhang) lümmelt nackt auf der Couch und singt Karaoke. Vor ihrem Fenster ragen Wohnblocks in die Höhe, von Kameramann Paul Guilhaume in betörendes Schwarz-Weiß getaucht. Camille (Makita Samba), ebenfalls wie Gott ihn schuf, gesellt sich hinzu und fragt Émilie, ob sie einen Joghurt möchte. Ein Inside-Joke, wie sich kurz darauf herausstellt, wenn die Handlung ein wenig zurückspult und offenlegt, wie die zwei sich kennenlernten. Émilie hat ihr Elitestudium gerade beendet und schlägt sich als Mitarbeiterin eines Callcenters durch. Um die Miete bezahlen zu können, sucht sie eine Mitbewohnerin. Den charmanten Literaturstudenten Camille, der an seiner Doktorarbeit sitzt und als Aushilfslehrer jobbt, hatte Émilie nur deshalb zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, weil sie hinter seinem Vorname eine Frau vermutete. Noch am selben Abend landen die zwei gemeinsam im Bett.

Camille erhält das Zimmer, wird Émilies Liebhaber und zieht direkt wieder aus, weil er keine feste Beziehung möchte und Émilie auf Camilles nächste Geliebte eifersüchtig ist. Gut einen Monat nach seinem Auszug treffen sie sich wieder. Émilie ist von einem Gelegenheitsjob zum nächsten gewandert, arbeitet jetzt als Kellnerin in einem Restaurant. Camille hat das Immobilienbüro eines Freundes übernommen, von diesem Geschäft allerdings keine Ahnung. Deshalb stellt er Nora ein, die ihr Jurastudium gerade abgebrochen hat, sich in der Immobilienbranche aber hervorragend auskennt. Camille will mehr, Nora zunächst nicht. Sein Liebesleid klagt er seiner Ex-Geliebten Émilie, die inzwischen zu einer guten Freundin geworden ist. Von Émilies eigenem Liebesleben, das sich nur noch über Dating-Apps abspielt, hält Camille wenig, auch wenn der Sex Émilie schon mal zu einem euphorischen, in Zeitlupe dargebotenen Tänzchen animiert. Wie sich die Lebenswege in diesem Film mehrfach kreuzen, kreuzen sich auch die Paarbeziehungen.

Klingt kompliziert, ist bei Audiard aber federleicht. Die in drei Kapitel eingeteilte Handlung basiert auf drei Kurzcomics des New Yorker Cartoonisten Adrian Tomine. Audiard hat sie gemeinsam mit Léa Mysius (Ava) und Céline Sciamma (Tomboy, Porträt einer jungen Frau in Flammen) als Drehbuch adaptiert. Es bewegt sich geschmeidig zwischen den Figuren und Handlungssträngen hin und her. Was begeistert, ist die Nonchalance, mit der hier von Liebe und Sex erzählt wird. Letztgenannter ist weder verschämt noch übertrieben stilisiert inszeniert, sondern so auf die Leinwand geworfen, wie er sein sollte: entspannt, unkompliziert und doch innig und intim.

Im Original heißt Jacques Audiards neuer Film schlicht Les Olympiades nach dem Gebäudekomplex im 13. Pariser Arrondissement, in dem Émilie wohnt. Mit der Lebensrealität und den Klischees einer Emily in Paris (TV-Serie, 2020) haben Audiards Émilie, Camille und Nora nichts zu tun. Der Filmemacher zeigt ein Paris abseits der Touristenströme, kein Paris der verliebten Pärchen, sondern eins der Arbeiter:innen. Eine Metropole voller Diversität und Gegensätze, die trotz aller Widersprüche immer auch ein Ort der Inklusion ist. Denn was die Menschen – völlig ungeachtet ihrer Herkunft und sexuellen Präferenzen und der Verletzungen, die sie in der digitalen und analogen Welt erlitten haben – am Ende verbindet, ist der Wunsch, zu lieben und geliebt zu werden. So schön und gleichzeitig selbstverständlich hat man das selten gesehen.

Wo in Paris die Sonne aufgeht (2021)

Emilie trifft auf Camille, die sich von Nora angezogen fühlt, die wiederum zufällig Amber begegnet. Drei junge Frauen und ein Mann — sie sind Freunde, manchmal liebende und oft auch beides gleichzeitig.

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