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Liebe dich selbst – steht das wirklich in der Bibel? Die meisten überlesen den zweiten Teil des Gebots. Die Dokumentarfilmer Susanne Petz und Ralph Gladitz nehmen ihn sehr, sehr ernst. Ein Film über Kämpfende, Nachdenkliche und in sich selbst Ruhende.

...Wie dich selbst? (2023)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Vom Ich zum Wir

Es ist erstaunlich: Beim christlichen Gebot der Nächstenliebe denken die meisten nur an den ersten Teil der Botschaft. Dass man andere nur lieben kann, wenn man auch sich selbst bedingungslos annimmt – für diese einfache Weisheit müssen Ratgeber-Bücher die Werbetrommel rühren. Wer achtet schon auf sein Wohl, wenn er Leistung bringen und funktionieren muss? Aus dem Hamsterrad auszusteigen, dazu lädt die Dokumentation von Susanne Petz und Ralph Gladitz nicht nur ein – sie praktiziert die Fürsorge für das eigene Ich gleich selbst, mit meditativen Bildern und dem Eintauchen in die Spurensuche anderer. So wird die simple Eingangsfrage „Wie stark ist deine Selbstliebe auf einer Skala von eins bis zehn?“ zum Türöffner für eine harmonischere und zufriedenere Welt.

Ein junger Mann sitzt vor einem Baum in herrlicher Landschaft: Die Stimmung könnte heiter und entspannt sein. Aber der Mann schaut ernst zur Seite, denkt lange nach, legt die Stirn in Falten. Und sagt dann den Satz, der mitten ins Herz trifft: „Ich glaube schon, dass es in meiner frühen Kindheit eine Zeit gab, in der ich mich sehr fehl am Platz gefühlt habe.“ Er unterstreicht das „sehr“ mit starker Betonung und Dehnung. „Vielleicht wäre es besser gewesen, ich wäre gar nicht auf der Welt“, fährt er fort. In diesem Moment möchte man in die Leinwand kriechen und ihn in den Arm nehmen. 

Das ist eine zentrale Szene in diesem ruhigen, bedächtigen Film, die zeigt, wie nah die Regisseure ihren neun Protagonistinnen und Protagonisten im Alter von 28 bis 88 Jahren gekommen sind. Der Rückblick in die Kindheit zeigt, wie sehr Selbstliebe von einem Urvertrauen in die Welt abhängt, das früh geprägt wird – oder eben nicht. Aber der bewegende Moment ist keineswegs charakteristisch für den Film. Ihm geht es nicht darum, irgendjemandem die Schuld zu geben und sich dann schmollend in seinem Elend zu suhlen. Es geht um den Blick nach vorn – um die Vision, wie die Welt aussehen würde, wenn man die Liebe zum eigenen Selbst stärken würde. Dass das trotz schwieriger Kindheiten und sonstiger traumatischer Erfahrungen möglich ist, zeigen nicht nur die Geschichten mancher Protagonisten. Es liegt auch in der Logik der filmischen Struktur selbst, in der Verflechtung der Gesprächspartner, in der das Wir aufscheint, das Gegenteil von Narzissmus. Wer mit seinem Problem nicht mehr allein ist, spürt schon den Wind der Veränderung.

Susanne Petz und Ralph Gladitz reden mit jedem ihrer neun Protagonisten separat, geben ihm Zeit und Raum. Alle sitzen auf einem Hocker in der freien Natur  – an einem Ort, der ihnen viel bedeutet. Es sind Plätze, an denen sie auch früher schon zur Ruhe kommen und den Kopf auslüften konnten, alle im bayerischen Oberland mit den Bergketten der Alpen im Hintergrund. Trotz der räumlichen Trennung führen die Lebensgeschichten, so unterschiedlich sie auch sind, einen virtuellen Dialog miteinander. Manches unterscheidet sich und spiegelt sich im Kontrast, anderes knüpft an die Erlebnisse der Vorredner an. Der Fortgang des Gesprächs ergibt sich durch die Interviewerin, die immer tiefer gräbt und immer weitere Horizonte öffnet. Nur die wenigsten Fragen hört man direkt im Film, aber man kann sie anhand der Antworten erahnen. Und es fällt leicht, sich vorzustellen, dass Susanne Petz, die hauptberuflich inzwischen Coach arbeitet, so mit ihren Klienten spricht: als Einladung, in sich zu gehen und auf die eigenen Gefühle zu hören. Dazwischen Stille, sanft von Musik (Stephan Willing) untermalt und von meditativen Kamerabildern (Pius Neumaier) erleuchtet. Ein Rhythmus, der die Zuschauerinnen und Zuschauer zum Nachsinnen über ihr eigenes Leben animiert.

Ein filmischer Ratgeber ist das nicht, die gibt es ja in Buchform zuhauf. Das Fragezeichen im Titel ist ernst gemeint. Liebst du dich selbst? Und wenn nicht, was hindert dich daran? Und was könntest du tun, um noch mehr für dich zu sorgen? Jeder und jede muss das für sich selbst beantworten. Für welche Lösungen die Filmemacher selbst einstehen, verraten sie nur in Interviews. Mit Egoismus, sagt Susanne Petz, habe gesunde Selbstliebe rein gar nichts zu tun. Sie glaubt im Gegenteil, dass selbstsüchtiges Verhalten aus einem Mangel an Selbstliebe herrühre. Und Ralph Gladitz bekennt, er habe während der Arbeit an dem Thema, das er zunächst für privat hielt, dessen politische Dimension erkannt. Deshalb steht der Film nicht für sich selbst, sondern ist Teil des Projekts „Generation L“ (L für Liebe), einer Aktion für weniger Hass, Aggression, Gewalt und Konkurrenz. In der Dokumentation selbst ist von solchem Aktivismus nichts zu spüren. Sie vertraut allein auf die Kraft des Innehaltens. Wohl wissend, wie anstrengend es sein kann, an sich zu arbeiten und für mehr Selbstliebe zu kämpfen, wie es eine Protagonistin am Ende formuliert. Sie hat nicht umsonst das Schlusswort.

...Wie dich selbst? (2023)

Ein Dokumentarfilm über die revolutionäre Kraft der Liebe. Neun Menschen an einem unberührten Platz in der Natur im intensiven Gespräch mit Susanne Petz und Ralph Gladitz, mit dem Zuschauenden und zugleich auf eine Weise auch miteinander. Stille Aufnahmen der großartigen Landschaft in Oberbayern geben Raum für eigene Gedanken zu der Frage: Wie stark ist meine Selbstliebe auf einer Skala von 1 (schwach) bis 10 (stark)?

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Meinungen

Helmut Knett · 21.03.2023

Man kann sich selbst und andere Lieben und gerade deshalb der Ansicht sein, es wäre besser gewesen, nicht geboren zu sein.. Man sollte Eigenliebe nicht mit dem Selbsterhaltungstrieb verwechseln.