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Tod, Leben, Familie, Konsum, Amerika – in seiner Adaption von Don DeLillos Roman „Weißes Rauschen“ packt Noah Baumbach ganz große Themen an, scheitert daran jedoch nicht. Wild zwischen den Genres wechselnd, zeichnet der Film ein herrlich absurdes Bild unserer immer wieder rätselhaften Existenz.

Weißes Rauschen (2022)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Der etwas andere Katastrophenfilm

Filmische Erzählungen brauchen Struktur, sind auf Leitplanken angewiesen und sollten thematisch nicht vollgepackt werden. So steht es in fast jedem der zahlreichen auf dem Markt erhältlichen Drehbuchratgeber, die meistens ein musterhaftes Schema vorgeben, aus dem – so das Versprechen – gute Geschichten entspringen können. Dass wilde Ton- und Genrewechsel sowie ein bunter Strauß an Fragestellungen allerdings sehr wohl produktiv sein können, beweist die Romanadaption „Weißes Rauschen“, in der Noah Baumbach auf Basis von Don DeLillos ambitionierter, vielschichtiger Vorlage aus dem Jahr 1985 ein ebenso skurriles wie bedrückendes und nachdenklich stimmendes Bild der menschlichen Existenz entwirft.

Das Zentrum des Films besetzt mit den Gladneys eine Patchwork-Familie aus einer US-amerikanischen Kleinstadt. Vater Jack (Adam Driver) lehrt am örtlichen College Geschichte und gilt als einer der anerkanntesten Hitler-Expert*innen weltweit, obwohl er erst jetzt beginnt, ein wenig Deutsch zu lernen. Ihm, seiner Ehefrau Babette (Greta Gerwig) und den vier Kindern, von denen bloß eines aus ihrer gemeinsamen Beziehung stammt, scheint es gut zu gehen. Doch immer wieder werden die Eltern von einem seltsamen Unbehagen ergriffen: So unterhalten sie sich zum Beispiel einmal nach dem Sex darüber, wer von beiden wohl zuerst sterben werde und wer mit dem Verlust besser umgehen könne.

Seit der Verdacht im Raum steht, Babbette werfe sich heimlich irgendwelche Tabletten ein, grübelt Jack vermehrt über das Befinden seiner Gattin. Ein Unfall zwischen einem Güterzug und einem Tanklastwagen, der eine toxische Wolke entstehen lässt, bringt das Gefüge schließlich völlig aus dem Gleichgewicht. Anfangs auf Beschwichtigung bedacht, muss der Hitler-Forscher einsehen, dass er sich der losbrechenden Panik nicht entziehen kann. Wie alle Nachbarn auch nimmt die Familie fluchtartig Reißaus und findet sich nur wenig später in einem Auffanglager wieder. Unterdessen kursieren über den giftigen Nebel allerlei Gerüchte.

Noah Baumbach macht es dem Publikum in seiner Romanverfilmung nicht unbedingt leicht. Wer einen locker-flockig dahinfließenden Unterhaltungsstreifen erwartet, dürfte mit Weißes Rauschen seine Probleme haben. In einer Tour hauen die Figuren uns nämlich geschliffene, intellektuell angehauchte Sätze um die Ohren, für die wir schon ein bisschen mehr Aufmerksamkeit aufbringen müssen. Nur so lassen sich viele Pointen auch wirklich genießen.

Die Angst vor dem Tod und den Unwägbarkeiten unserer Existenz, die in vielen Dialogen deutlich artikuliert wird, verleiht dem Geschehen eine gewisse Schwermütigkeit. Und doch kommt der Film alles andere als bleiern daher, da es dem auch für das Drehbuch verantwortlichen Regisseur gleichzeitig gelingt, eine Ode an die Absurdität des Lebens anzustimmen. Schon der Alltag bei den Gladneys zeichnet sich durch viele schräge Details aus. Noch skurriler wird es nach dem spektakulär in Szene gesetzten Crash. Ordnen die Behörden eine Evakuierung an? Oder empfehlen sie bloß, Haus und Hof zu verlassen? Auf die Tonlage in den Lautsprecherdurchsagen komme es an, belehrt der verzweifelt um Souveränität bemühte Jack seine Kinder, bevor die allgemeine Verunsicherung ihn und seine Familie mitreißt.

Gut getimten Slapstick-Humor bietet der Film vor allem im Mittelteil. Etwa wenn im Camp eine Massenpanik ausbricht und die Gladneys auf der Flucht mit ihrem Wagen in einem Fluss landen. Regelrecht kafkaesk mutet das Gespräch zwischen Jack und einem Mitarbeiter des Auffanglagers an. Die aktuelle Katastrophe werde, so erfährt er, für eine Simulation genutzt. Sein Gegenüber bleibt in seinen Antworten seltsam nebulös, geht nie konkret auf die gegenwärtige Bedrohungslage ein, verweist ständig auf irgendwelche Daten aus seinem Computer. 

Angesiedelt ist die Handlung in den 1980er Jahren. Weißes Rauschen fühlt sich dennoch kein bisschen angestaubt, sondern brandaktuell an. Vor allem mit Blick auf die Auswirkungen des Chemieunfalls, über dessen Gefahr niemand so recht Bescheid zu wissen scheint. Die Verbreitung falscher Behauptungen und die zwiespältige Rolle der Medien wecken auf jeden Fall Erinnerungen an unsere aufgeregten Corona-Zeiten, in denen Fake-News eine ganz neue Wucht entfalten konnten. Daneben erforscht der Film den Mythos Amerikas und die Eigenschaften seiner Bewohner*innen. Ein zentraler Punkt: Gewalt als erneuernde Kraft, wie sie der Kulturkritiker und -historiker Richard Slotkin in seinem einflussreichen Werk Regeneration Trough Violence: The Mythology of the American Frontier, 1600-1860 beschreibt. Ebenso in den Fokus rückt der durch Hollywood in die Welt getragene Star-Kult, dem Jacks Kollege Murray Siskind (Don Cheadle) in seinen Elvis-Presley-Studien nachspürt. Von großer Bedeutung ist ferner die Lust am Konsum, der als Gegenmittel zur existenziellen Angst fungiert. Ein Aspekt, den Baumbach für eine wunderbar verspielte Musical-Einlage im Abspann nutzt. Wenn nichts mehr geht, hilft womöglich der Gang ins Warenhaus – oder, auf das Heute übertragen, die Shoppingtour im Internet. 

Wenig verwunderlich ist das Themenkarussell eingebettet in eine Erzählung, die ständig ihren Tonfall wechselt und munter von einem Genre zum nächsten springt. Familienkomödie mit sich überlappenden Gesprächen im Robert-Altman-Stil, Untergangsvision, Paranoia-Kino, Ehedrama, Horrorfilm und noiriger Rachethriller – die Palette ist breit, wobei man staunen kann, wie atmosphärisch manche Passagen geraten. Eine Gruselszene beispielsweise, in der Jack nachts eine ominöse Gestalt im Schlafzimmer entdeckt, hat eine albtraumhafte Qualität, die man in „echten“ Schauerwerken nur selten erleben darf. Nicht zuletzt der wirkungsvolle Einsatz von Geräuschen und Musikstücken – erwähnenswert: die Melodie des deutschen Volksliedes Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus – sorgen für Anflüge handfester Beklemmung. 

Dass der in viele unterschiedliche Richtungen ausgreifende, mit einem durchdachten, manchmal betont surrealen Szenenbild aufwartende Film das Interesse bindet, ist zu einem Gutteil dem starken Ensemble zu verdanken. Eine wahre Freude ist besonders das Spiel Adam Drivers und Greta Gerwigs, die in all dem absurden Treiben auch einige überraschend emotionale Akzente setzen. In einer pointierten Nebenrolle sticht Lars Eidinger als verkrachter Medikamentendealer heraus. Mit seinem Auftritt stößt Weißes Rauschen endgültig in irrwitzige Sphären vor, wobei sicherlich nicht alle Zuschauer*innen Gefallen am zunehmend entrückter wirkenden Schlussdrittel finden werden. Nichtsdestotrotz ist Baumbachs Romanadaption ein reichhaltiger, lebendiger, farbenfroher Film, aus dem man vieles mit nach Hause nehmen kann, selbst wenn er die Rätsel namens Leben und Tod in ihrer Komplexität – natürlich –  keineswegs restlos zu entschlüsseln vermag.

Weißes Rauschen (2022)

Der Film handelt nach einem Roman von Don DeLillo von einem Professor, der an einer liberalen Hochschule über Hitler lehrt. Ein „giftiges Event in der Luft“ zwingen ihn und seine Frau dazu, sich der Sterblichkeit zu stellen.

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