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Angelehnt an Roger Willemsens letztes, nie ganz fertiggestelltes Buch „Wer wir waren“, das erst posthum und in verkürzter Essayform erschien, unternimmt Marc Bauder eine Reise zu sechs Wissenschaftler*innen und setzt sich mit ihrem Blick auf unsere Welt und das, was da kommt, auseinander.

Wer wir waren (2021)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Ein Epilog möglicherweise

Vor etwas mehr als fünf Jahren, am 7. Februar 2016 verstarb der Publizist Roger Willemsen. Bis kurz vor seinem Tod hatte er – basierend auf seiner „Zukunftsrede“, die er im Sommer 2015 gehalten hatte – an einem Buch gearbeitet, das sich darum drehen sollte, mit dem Wissen der Zukunft einen Blick zurück auf unsere Gegenwart zu werfen. Dieses Werk war als Mahnung gedacht und sollte verdeutlichen, wie sehr die Menschheit dabei ist, die Grundlagen allen Lebens auf dem Planeten Erde zu zerstören. Sein plötzlicher Tod riss ihn mitten aus dem Schreibprozess und das geplante Buch mit dem Titel Wer wir waren blieb in der ursprünglich erdachten Form unvollendet. Stattdessen erschien posthum ein schmaler Essayband. Und dieser wiederum dient nun dem Dokumentarfilmer Marc Bauder („Master of the Universe“) als Ausgangspunkt für seinen neuen Film.

Im Prinzip ähnelt der Film von seiner Herangehensweise Bauders Auseinandersetzung mit der Finanzkrise: Hier wie dort ist es ein retrospektiver Blick des Erinnerns und Bewertens. War es aber bei Master of the Universe ein Experte, der aus der Gegenwart auf die Vergangenheit der Finanzkrise zurückblickte, ist die Perspektive in Wer wir waren vielschichtiger, universeller und auch zeitlich komplexer. Gleich sechs Expert*innen unterschiedlichster Disziplinen sind es, die Bauder in seinem Film versammelt, die sich verschiedenen Facetten widmen. Der Blick des Astronauten Alexander Gerst ist naturgemäß bestimmt von einer extraterrestrischen Perspektive aus dem Weltall, bei der die Grenzen von Ländern und Nationen sich auflösen und verschwimmen. Aus der Ferne der Raumstation ISS betrachtet, fällt die Geschlossenheit des Planeten und seine Schönheit ins Auge, erscheinen die Konflikte, Kriege und Zwistigkeiten der Erdenbewohner*innen, ihre Egoismen und ihr Mangel an globaler Solidarität als völlig unverständlich. Geradezu folgerichtig ist da die Einführung der nächsten Perspektive: Die US-amerikanische Ozeanologin Sylvia Earle ist Expertin für das Leben in den Weltmeeren, die beim Blick aus dem Weltall auf den blauen Planeten besonders ins Auge fallen. Sie verdeutlicht, wie wenig wir eigentlich über das Leben in der Tiefsee wissen, wie viele Geheimnisse auf der Erde noch erforscht sind.

Überaus spannend ist vor allem der Blick der Philosophin Janina Löhr, die als Posthumanistin die Grenzen der Spezies erforscht und sich fragt, ob intelligente Roboter und andere künstliche Intelligenzen vielleicht einmal unsere Nachfolger auf Erden werden und warum sich ausgerechnet bei der Spezies Mensch höchste Kreativität mit großer Zerstörungswut paart.

Ergänzt werden diese Sichtweisen durch den Wirtschaftswissenschaftler Dennis Snower, der als einflussreicher Mitgründer des Global Solutions Summit versucht, gemeinsam mit anderen Mächtigen der Welt grenzüberschreitende Lösungen für globale Probleme zu entwickeln. Der Molekularbiologe und praktizierende Buddhist Matthieu Ricard hingegen beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von Meditation auf das Geistesleben und Sozialverhalten des Menschen, während der Philosoph und Ökonom Felwine Sarr Strategien dafür entwickelt, wie der globale Süden sich aus den Abhängigkeiten vom Norden befreien kann.

Es ist eine ungeheure Ideensammlung, die neben den sechs Wissenschaftler*innen und Denker*innen noch eine weitere Perspektive in sich birgt. Begleitet und unterbrochen werden die Gedanken der Protagonist*innen immer wieder von Einwürfen und Zitaten aus Willemsens Essay, die von Manfred Zapatka hörenswert eingesprochen werden. Sie und die manchmal fast schon kontemplativ anmutenden Naturaufnahmen bilden die dringend benötigte Klammer von Wer wir waren, der an manchen Stellen Gefahr läuft, sich im Dickicht der Positionen zu verirren und den man sich bei aller Freude an der Offenheit manchmal doch stringenter durchkomponiert gewünscht hätte. So aber hält das Publikum am Ende viele Fäden in der Hand, die (vermutlich) auf vielfältige Weise miteinander verbunden und verknotet sind. Und die Aufgabe, diese aufzudröseln, erweist sich als überaus komplex, zumal sich in den Statements Banales und längst Bekanntes beinahe unterschiedslos mit hochkomplexen Sachverhalten abwechseln und nicht jede/r Expert*in gleich spannend und ergiebig erscheint. Die posthumanistische Perspektive von Janina Löhr jedenfalls ist wie gemacht für eine genauere Betrachtung.

Aber vielleicht ist dieses Mäandernde ja eine ganz gute Metapher für all die Aufgaben, die der Menschheit erst noch bevorstehen. Einfache Lösungen jedenfalls sucht man hier vergebens, sondern findet vielmehr teils interessante, dann wieder weniger interessante und vielfältig verstreute Gedanken, die allerdings erst die ersten Schritte darstellen auf einem Weg, von dem wir keine Ahnung haben, wohin er uns führen wird.

Wer wir waren (2021)

Was werden zukünftige Generationen über uns denken, wenn wir bereits Geschichte sind? In „Wer wir waren“ blicken wir auf den gegenwärtigen Zustand der Welt und fragen uns im Geiste von Willemsens Vermächtnis, ob sie an uns verzweifeln werden. Sechs Denker*innen und Wissenschaftler*innen unserer Zeit reflektieren die Gegenwart und blicken in die Zukunft. 

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