Was du nicht siehst

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Das Ende eines Sommers

Dass der gemeinsame Familienurlaub gerne dazu benutzt wird, um Schieflagen und Spannungen in gelöster Atmosphäre abzubauen, ist nun wahrlich nichts Neues. Und dass genau diese Erwartungshaltungen oftmals unter der Last der unausgesprochenen, aber dennoch nicht minder heftig vorhandenen Enttäuschungen förmlich in sich zusammenbrechen, ist beinahe ebenso nachvollziehbar und schlüssig. Inmitten solch einer brisanten Gemengelage hat Wolfgang Fischer sein Spielfilmdebüt Was du nicht siehst angesiedelt, das bereits auf zahlreichen Festivals (unter anderem bei den Hofer Filmtagen, auf der Berlinale und in Rotterdam) zu sehen war.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht der 17-jährige Anton (Ludwig Trepte), der – vermutlich nicht ganz freiwillig – mit seiner Mutter Luzia (Bibiana Beglau) und deren neuem Freund Paul (Andreas Patton) in den Urlaub in die Bretagne fährt. Nach dem Selbstmord des Vaters vor einiger Zeit haben sich stumme Vorwürfe und die nicht verarbeitete Trauer zwischen Mutter und Sohn angehäuft und verhindern die neue Beziehung – dies alles soll sich nun in diesen Spätsommertagen, in denen der nahende Herbst schon deutlich zu spüren ist, endlich in Wohlgefallen und Harmonie auflösen.

Doch je mehr die angestrebte Harmonie der Patchworkfamilie in spe eingefordert und betrieben wird, desto einsamer und hilfloser fühlt sich Anton – bis er jenem merkwürdigen jungen Pärchen begegnet, das sich im Nachbarhaus einquartiert hat. David (Frederik Lau) und Katja (Alice Dwyer) sind so ganz anders als der ebenso verwöhnte wie verstörte Internatszögling Anton und faszinieren den vom Selbstmord seines Vaters immer noch erschütterten Jungen mit ihrer Aura aus unterdrückter Gewalt, Sexualität, Gefahr und dem verführerischen Duft des Verbotenen. Die beiden, deren Verbindung zueinander niemand so ganz ergründen kann (sind sie Geschwister, Geliebte oder beides gar) scheinen all das zu verkörpern, was in Anton zwar angelegt ist, sich jedoch den Weg ans Licht nicht von alleine bahnen kann. Zunehmend fasziniert und zugleich enttäuscht von seiner Mutter und genervt von deren Freund gerät Anton in einen verwirrenden Strudel aus Ereignissen, die am Ende des Sommers in einem surrealen Alptraum enden.

Es sind vor allem die Bilder, mit denen Wolfgang Fischers Debütlangfilm Was du nicht siehst zu fesseln und zu faszinieren versteht. Dank seinem lenkenden Blick und Martin Gschlachts Gespür für die bizarren Szenerien der bretonischen Küste, für die verschachtelte Geometrie des Ferienhauses und für das bereits merklich schwächer werdende Licht des Spätsommers werden die Schwächen des Drehbuchs aufgefangen, das sich zumeist extrem bemüht an den Klischees aus Mystery, leisem Thriller und Coming-of-age-Drama entlang hangelt. Überhaupt ist bei aller ästhetischen Brillanz die inhaltliche Formelhaftigkeit das größte Manko des Films: Stets bleiben die Figuren und ihre Beziehungen zueinander als Konstrukt erkennbar, das mehr an der eigenen Schlüssigkeit interessiert ist als daran, sie jenseits ihrer Bedeutung zu wirklichem Leben zu erwecken und ihr Handeln nachvollziehbar zu machen.

Vor allem mit dem Schluss, der beinahe alles zuvor Gesehene in Frage stellt bzw. negiert, dürfte so mancher Zuchauer seine liebe Not haben. Denn statt einer alternativen Sichtweise bieten sich dem Zuschauer gleich mehrere an – die aber alle an dem gleichen Problem kranken: Wirklich überzeugend und schlüssig ist keine der Varianten, so dass man das Kino eher unbefriedigt verlässt. Bei aller Freude über das Geschichtenerzählen, das offene Enden wagt und verschiedene Interpretationsebenen zulässt – in Was du nicht siehst wirkt das vor allem fragmentarisch, spannungsarm und fast ein wenig beliebig.

Was am Ende übrig bleibt, sind vor allem die Erinnerungen an visuell durchaus beeindruckende Bilder und an die drei jungen Darsteller Ludwig Trepte, Frederick Lau und Alice Dwyer, die in dieser cineastischen Familienaufstellung ihre erfahreneren Kollegen wahrhaftig alt aussehen lassen.

Was du nicht siehst

Dass der gemeinsame Familienurlaub gerne dazu benutzt wird, um Schieflagen und Spannungen in gelöster Atmosphäre abzubauen, ist nun wahrlich nichts Neues. Und dass genau diese Erwartungshaltungen oftmals unter der Last der unausgesprochenen, aber dennoch nicht minder heftig vorhandenen Enttäuschungen förmlich in sich zusammenbrechen, ist beinahe ebenso nachvollziehbar und schlüssig.
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Meinungen

LW · 27.06.2012

Hallo Meike,

Dies überragend Werk ist mittlerweile auf DVD (arte edition)erhältlich.

Meike Becker · 05.09.2011

Nun läuft dieser Film ja nur in ausgewählten Kinos, auf DVD gibt es ihn (noch?) nicht, wird er dennoch bald auf DVD erscheinen, ich konnte keine Informationen dazu finden und wäre für Hinweise dankbar!