Was bleibt (2012)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Vivisektion einer gehobenen Mittelstandsehe

Ein ganz normaler Besuch bei den Eltern am Wochenende – dies ist wohl eine Situation, die jeder kennt. In Hans-Christian Schmids Was bleibt entspinnt sich aus dieser ganz alltäglichen Situation die Vivisektion einer ganzen Familie, bei der die glänzende Fassade der kultivierten Bürgerlichkeit trotz aller Bemühungen, den schönen Schein aufrecht zu erhalten, längst tiefe Risse zeigt.

Marko Heidtmann (Lars Eidinger) lebt in Berlin und hat sich unlängst von Tine getrennt, mit der er einen gemeinsamen Sohn hat. Noch ahnen seine Eltern Gitte (Corinna Harfouch) und Günter (Ernst Stötzner), zu denen er gemeinsam mit Zowie (Egon Merten) übers Wochenende fährt, nichts von der gescheiterten Beziehung. In dem kleinen Ort in der Nähe von Köln, wo die Eltern leben, hat sich auch Markos jüngerer Bruder Jakob (Sebastian Zimmler) mit seiner vor kurzem eröffneten Zahnarztpraxis niedergelassen. Und mit Marko und Zowie im gleichen Zug sitzt Jakobs Freundin Ella (Picco von Groote), die noch studiert. Kaum ist Marko angekommen, erfährt er den Grund für das von den Eltern anberaumte Zusammentreffen: Günter, der in Frankfurt einen Verlag leitet, hat vor, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen und sich endlich all seine Wünsche und Träume zu erfüllen.

Doch je mehr Zeit die Familie an diesem Wochenende miteinander verbringt, desto mehr treten all die unausgesprochenen und verheimlichten Wunden zutage, die sie sich im Laufe von vielen Jahren zugefügt haben. Gitte beispielsweise leidet seit vielen Jahren unter schweren Depressionen und hat sich nun dazu entschlossen, die Tabletten abzusetzen, um endlich ein Leben in Selbstbestimmung zu führen. Während Marko sie unterstützt, sind Günter und Jakob entsetzt und befürchten den Absturz der labilen Frau. Es kommt zum Streit in dessen Verlauf auch die anderen Lebenslügen auf den Tisch kommen. Und das bleibt nicht ohne Folgen.

„Was man liebt, das lässt man los, was zurückkommt bleibt“, sagt Gitte an einer Stelle zu Marko und beschreibt damit sowohl das Thema des Films wie auch dessen Titel. Es geht um die Vergänglichkeit der Liebe und die des familiären Glücks, um Selbstbetrug und den Punkt im Leben, an dem sich die Fassade nicht mehr länger aufrechterhalten lässt. Dass dieser Punkt für all die Personen in Hans-Christian Schmidts Film an diesem einen Wochenende erreicht ist, ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, doch so beiläufig und gekonnt, wie er und sein Drehbuchautor Bernd Lange diese Verdichtung vornehmen, ist dies eine Fiktion, eine Konstruktion, die sich niemals wie eine anfühlt bzw. eine, die man in Momenten des Zweifels gerne glaubt – nicht weil es schön wäre, was man hier zu sehen bekommt, sondern sich alles an diesem Film richtig und wahr anfühlt.

Das unsichtbare Zentrum des Films und ein wahrhaft magischer Moment befindet sich ungefähr in der Mitte des Films und erinnert ein wenig an einen ähnlichen Moment in Paul Thomas Andersons Magnolia. Am Morgen der Feier zu Günters Ausstieg aus dem Verlag klimpert Marko mit Zowie auf dem Klavier herum und spielt eine kleine Melodie, als seine Mutter den Raum betritt. Die zögert, erkennt die Melodie und singt voller Inbrunst „Du lässt dich gehen“ von Charles Aznavour. Dann kommt Günter dazu und übernimmt eine Strophe und man spürt, dass jeder von ihnen die Worte der gegenseitigen Enttäuschung vom jeweils anderen bei aller Heiterkeit verdammt ernst meint.

„Wovon man nicht reden kann, darüber soll man schweigen“, so lautet der berühmte letzte Satz von Ludwig Wittgensteins berühmtem Tractatus logico-philosophicus. In dieser Szene kommt zu der finalen Wahrheit des unbarmherzigen Sprachanalytikers noch eine weitere Wahrheit hinzu: „Worüber man nicht länger schweigen kann, darüber soll man singen.“ Denn es gibt Wahrheiten, die lassen sich manchmal einfach nicht mehr länger ertragen.

Bei Bernd Lange, von dem das mittlerweile mit dem Preis der Deutschen Filmkritik ausgezeichnete Drehbuch stammt, und Hans-Christian Schmid stimmt jedes Wort, jede Geste, jedes Detail — und vor allem endlich mal die Musik. Denn die kommt von The Notwist und ist reinstes Balsam für geschundene und von übler Klangsoße malträtierte Ohren – aber das ist dann auch nur noch das Sahnehäubchen.
 

Was bleibt (2012)

Ein ganz normaler Besuch bei den Eltern am Wochenende – dies ist wohl eine Situation, die jeder kennt. In Hans-Christian Schmids Wettbewerbsbeitrag „Was bleibt“ entspinnt sich aus dieser ganz alltäglichen Situation die Vivisektion einer ganzen Familie, bei der die glänzende Fassade der kultivierten Bürgerlichkeit trotz aller Bemühungen, den schönen Schein aufrecht zu erhalten, längst tiefe Risse zeigt.

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Meinungen

Christel Kemmler · 24.09.2012

Ein beeindruckender Film! Die Grenze, wer hier eigentlich "krank" ist,wird im Laufe des Films fließend. Ist es die auf Medikamente "eingestellte" Mutter? Ist es der Sohn, der Berufsprobleme im Alkohol ertränkt? Ist es der Vater, der seiner Frau mitten in deren Versuch zum Neuanfang offenbart, dass er bereits länger eine andere liebt und sich die Nähe seines Sohnes erkauft? Ist es das Enkelkind, dass in der Ehekrise seiner Eltern und dem Drama zwischen den Großeltern fast ausschließlich mit einer Tigermaske herumläuft? Selbstwahrnehmung? Fehlanzeige. Die offensichtlich einzige, die um Selbständigkeit und Freiheit kämpft, stößt auf den "besorgten Widerstand" der anderen. Sehr sensibel und tiefgründig dargestellt. Ich hoffe, dass auch Nicht-Betroffene die Güte dieses Films erkennen.

Christiane Specht · 12.09.2012

Einer der besten, sensibelsten und darstellerisch unübertroffen Filme, die ich gesehen habe!
Danke für diese tolle Arbeit!

Ruhrkind · 06.09.2012

Habe mir gestern den Film angesehen und kann ihn wirklich sehr empfehlen. Fordert zum Nachdenken auf. Ist es nicht im Privat- aber auch Berufsleben viel einfacher, Dinge zu beschönigen oder abzuschwächen, um nicht erkären zu müssen?

BS · 06.09.2012

Habe ihn gestern gesehen und kann ihn nur empfehlen. Ein Film über den man später noch nachdenkt. Er hält uns vor Augen, wie sehr wir anderen und auch uns gerne etwas vormachen und wie wichtig doch die Wahrheit ist. Und auch wie schnell man in unserer Gesesellschaft mit einer schweren Krankheit entmündigt wird. Wunderbar auch der Schluss, der Raum für eigene Interpretationen lässt. Also: echt gut gemacht und sehenswert!

wignanek-hp · 21.02.2012

Hans Christian Schmid und Bernd Lange sind ein Dreamteam. Und dann dazu diese Schauspieler! Was kann es für einen Kinogänger schöneres geben1 Da stimmte jeder Satz, jede Geste, keine überflüssige Gefühlsduselei, nur nüchterne Bestandsaufnahme, manchmal etwas schwer zu ertragen. Für mich war der Höhepunkt des Filmes nicht die Gesangsszene, die für meinen Geschmack etwas zu perfekt war, sondern die Traumsequenz. Sie machte den Schluss, der doch recht ernüchternd ist, erträglicher. Die Berlinale war, zumindest was meine Filmauswahl betraf, eher mittelmäßig. Aber Schmids Film hat mich für vieles entschädigt.