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In The Big Short sezierte Adam McKay die Finanzbranche, nun knöpft er sich Washington vor. Seine dramatische Farce wartet mit erstklassigen Schauspielern, hochwertiger politischer Unterhaltung und einem ungewöhnlichen Cameo auf.

Vice - Der zweite Mann (2018)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Herzkammer des Hintersinns

Dieser Film könnte nach 50 Minuten zu Ende sein. Der Abspann rollt bereits, als sich sein Hauptdarsteller gegen ein Happy End und für den Wahlkampf an der Seite des kommenden US-Präsidenten entscheidet. Wer Adam McKays The Big Short (2015) gesehen hat, ist solche Volten gewohnt. Und wer die 2000er-Jahre nicht verschlafen hat, weiß, dass die Geschichte übel ausgeht. Doch wie wurde der Protagonist, wer er ist? Wie eine träumende Nation zu einer macht- und karrierebesessenen?

Richard Bruce Cheney (Christian Bale), den alle Welt „Dick“ ruft, formten drei Dinge: der Alkohol, das Fliegenfischen und seine Ehefrau Lynne (Amy Adams). Im Jahr 1963 ist er nichts weiter als „a big, fat, piss-soaked zero“, eine Null, ums freundlicher als seine Zukünftige zu formulieren. Einen Uniabschluss hat er nicht vorzuweisen, dafür zwei Verhaftungen wegen Trunkenheit am Steuer. Lynne trichtert dem Suffkopf ein, jede sich bietende Gelegenheit zu ergreifen. Er ist ihr Ticket nach oben, macht die Karriere, die sie als Mädchen aus Wyoming nicht haben kann. Eine Schattenfrau an der Seite des späteren Schattenpräsidenten. Es folgt ein Aufstieg mit Unterbrechungen. Das Warten hat Cheney beim Fischen gelernt.

Auch McKay unterbricht, blendet vor und zurück, friert das Bild ein, knallt Parolen auf die Leinwand. Mit The Big Short scheint er einen neuen Stil gefunden zu haben, irgendwo zwischen zynischer Farce und politischem Aufklärungskino. Zuvor war der Improvisationskomiker und langjährige Saturday Night Live-Autor für seine Gemeinschaftswerke mit SNL-Mitstreiter Will Ferrell bekannt. Filme wie Der Anchorman (2004), den er 2013 fortsetzte, Ricky Bobby – König der Rennfahrer (2006) oder Die etwas anderen Cops (2010) und die mit Ferrell gegründete Website funnyordie.com verbreiten zwar durchaus anarchischen Humor, sind aber wahrlich nicht für ihren politischen Scharfsinn bekannt. In Vice – Der zweite Mann treibt McKay seinen neu gefundenen Stil genüsslich auf die Spitze. Lag in The Big Short noch Margot Robbie in der Badewanne, um den Finanzmarkt zu erklären, setzt jetzt Naomi Watts dem Kinopublikum als Nachrichtensprecherin die Welt auseinander oder Alfred Molina als Kellner die juristischen Feinheiten der Folter von Terrorverdächtigen.

Zu diesem Zeitpunkt zieht Cheney längst die Strippen. Er ist kein guter Redner, aber ein begnadeter Beobachter. Bei Donald Rumsfeld (Steve Carell) hat er ganz genau hingesehen. Wie der spätere Verteidigungsminister betreibt auch Cheney keine Politik mit der Axt, sondern mit dem Faltmesser, das im entscheidenden Moment zusticht. Mit George W. Bush (Sam Rockwell) hat Cheney nach Jahren des Abwartens endlich den richtigen Fisch am Haken. Wie er den bald mächtigsten Mann der Welt bei einem Gespräch ködert und ihm eine für einen Vizepräsidenten bis dato ungeahnte Machtfülle abschwatzt, ist ein Kleinod der Schauspielkunst. Christian Bale und Sam Rockwell versinken vollkommen hinter ihren Masken. Bale, der für die Rolle 20 Kilogramm zulegte, schnauft tief, wägt jedes Wort ab, imitiert Cheneys Duktus perfekt. Rockwells Reaktion ist urkomisch. Als wäre McKay dabei gewesen, inszeniert er Bush und Cheney wie zwei ehemalige Trunkenbolde am weltpolitischen All-You-Can-Eat-Büffet.

Auch der Rest des erstklassig besetzten Ensembles begeistert. Wirklich sympathisch ist kaum ein Charakter. McKay und Bale machen aus Cheney aber kein Monster, sondern einen liebenden Familienvater. Die Homosexualität seiner Tochter Mary (Alison Pill) akzeptiert er wider Erwarten, nur um sie Jahre später der politischen Karriere seiner anderen Tochter Liz (Lily Rabe) zu opfern. Ein stiller Stratege und dadurch vielleicht das größte Monster überhaupt. Ein herzloser Profi und herzlicher Privatmann, dessen Herz gleich dreimal aussetzt, was beim Publikum ironisches Schmunzeln auslöst und dem Regisseur das wohl außergewöhnlichste Cameo der Filmgeschichte beschert. Während der Postproduktion musste auch McKay unters Messer. Die dabei gemachten Aufnahmen seines Herzens landeten schließlich im fertigen Film.

Der mal bitterböse, mal messerscharfe und trotz seiner Länge erstaunlich kurzweilige Vice spannt einen breiten Erzählbogen, in der die Zeit oftmals zusammenschnurrt. Dann fällt Dick Cheney 1963 einem Polizisten betrunken vor die Füße, um einen harten Schnitt später am 11. September 2001 besonnen Weltpolizist zu spielen. McKay kommt es auf Entwicklungslinien und Bezüge an. Sein Drehbuch bricht Cheneys Leben auf und puzzelt es neu zusammen. Mal stellt der Regisseur George W. Bushs Kabinett wie eine Partie Monopoly vor, mal deklamiert das Ehepaar Cheney Blankverse im Bett. Cheneys biografischer Zickzack ist eben kein Shakespearestück, zu dem so viele andere Biopics berühmte Leben überhöhen, nur um bei McKay ein ironisch gebrochenes zu werden. Über all dem thront ein allwissender Erzähler (Jesse Plemons), dessen wahre Rolle, die an dieser Stelle nicht verraten werden soll, makaberer kaum sein könnte.

Dieses Füllhorn kreativer Einfälle droht beständig, an der eigenen Kreativität zu bersten. McKay schüttet alles hinein, und manchmal ist das zu viel. The Big Short war runder, konsistenter, dadurch aber auch ein bisschen harmloser. Vice ist schlichtweg unberechenbar. Wer die Form so sehr in den Vordergrund rückt wie McKay, riskiert, dass das Publikum den Inhalt aus den Augen verliert. Dabei sind die Fakten allseits bekannt. Aber wer kennt sie tatsächlich? Beschäftigt sich die breite Öffentlichkeit, die tagtäglich länger arbeitet, um am Ende weniger auf dem Konto zu haben, wie es der Erzähler an einer Stelle formuliert, wirklich mit der jüngsten politischen Vergangenheit? Im Frühjahr 2019, wenn Vice in die deutschen Kinos kommt, scheint in den USA der Boden für eine Abkehr von Cheneys Politik, die bis heute nachwirkt, zumindest bereitet. McKay gelingt es, all ihre Verstrickungen, ihr Übervorteilen der oberen Zehntausend und ihre Aushöhlung des Rechtsstaats verständlich und trotzdem unterhaltsam auf die Leinwand zu bringen. Viel mehr kann Kino nicht leisten.

Vice - Der zweite Mann (2018)

„Vice“ erzählt, wie ein Washingtoner Bürokrat namens Dick Cheney (Christian Bale) zum Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika unter George W. Bush wurde und sein Land und die Welt in einer Weise umgeformt hat, dass wir die Auswirkungen heute immer noch spüren.

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Meinungen

Denis Diderot 2018 · 04.03.2019

Wer die Reportagen von Claas Relotius geliebt hat, wird sich auch in "Vice" glänzend unterhalten fühlen. So stellen sich die Spiegel-Leser des Jahres 2019 die USA vor.

Branden · 02.03.2019

Schade eigentlich, der Film hätte gut werden können, wenn er nicht auf die übliche kitschige Hollywood-Art gemacht worden wäre. Der politische Stoff ist total interessant und wichtig. Der Mensch, der die üblen Schnitte und Vergangenheitseinblendungen verbrochen hat, sollte allerdings öffentlich geohrfeigt werden.