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Die Erde ist verwüstet – mal wieder! „Vesper Chronicles“ entwirft allerdings ein faszinierendes Zukunftsszenario, das viele Hollywood-Dystopien locker in die Tasche steckt. Riesige Budgets braucht es nicht, wie diese internationale Koproduktion beweist, um das Publikum in den Bann zu schlagen.

Vesper Chronicles (2022)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Saat der Hoffnung

Dystopische Geschichten machen, da die Gegenwart immer unsicherer erscheint, in Film und Fernsehen seit geraumer Zeit einen beachtlichen Teil des Angebots aus. Im Meer der Untergangsfantasien und Überlebenskämpfe fällt es allerdings zunehmend schwerer, echte Perlen zu entdecken. Viele Erzählungen ähneln sich und/oder schaffen es nicht, ihr Szenario überzeugend auszugestalten. Umso schöner ist es, wenn aus der Schwemme ab und an dann doch ein Werk mit einer richtigen Vision und kreativen Einfällen heraussticht. In diese Kategorie gehört zum Beispiel die belgisch-französisch-litauische Koproduktion „Vesper Chronicles“, die erfreulicherweise einen deutschen Kinostart erhält – und unbedingt auf der großen Leinwand rezipiert werden sollte. 

Die Welt, so erfahren wir in einer für das Science-Fiction-Genre fast obligatorischen Texteinblendung zu Beginn, gleicht einem neuen Mittelalter, nachdem der Versuch, die ökologische Krise mit gentechnologischen Instrumenten aufzuhalten, krachend scheiterte. Viren und Organismen, die in Laboren gezüchtet worden waren, gelangten in die Umwelt, vernichteten Pflanzen, Tiere und einen Großteil der Menschheit. Gut geht es nach dieser Katastrophe nur einer privilegierten Minderheit, die in hochaufragenden, abgeschlossenen Städten, den sogenannten Zitadellen, residiert und von dort aus Samen für Nahrung an die Besitzlosen verkauft, die mit Blutkonserven bezahlen. Das Perfide an dem Handel: Die Saatkörner sind – inspiriert von der real existierenden Terminator-Technologie – so manipuliert, dass sie nur für eine einzige Ernte taugen. Hunger ist folglich ständiger Begleiter der Armen.

Ein hartes Leben in der Wildnis führt auch die junge Vesper (Raffiella Chapman) mit ihrem gelähmten Vater Darius (Richard Brake). Dank einer Drohne, die mit seinem Gehirn verbunden ist, kann der ans Bett gefesselte Mann seine Tochter auf ihren Streifzügen außerhalb ihres behelfsmäßigen Unterschlupfes begleiten und ihr mit Rat zur Seite stehen. Als eines Tages die aus einer Zitadelle stammende Camellia (Rosy McEwan) in der Nähe bruchlandet, nimmt Vesper die Verletzte, die ihren beim Absturz ebenfalls anwesenden Vater vermisst, kurzerhand mit nach Hause. Gefahr für das Trio geht von Darius‘ Bruder Jonas (Eddie Marsan) aus, der auf seinem Hof über eine Kinderschar herrscht und dem jedes Mittel recht ist, um selbst so gut wie möglich über die Runden zu kommen.

Was schon nach wenigen Einstellungen auffällt: Vesper Chronicles hebt sich erfrischend ab von all den hochbudgetierten Science-Fiction-Filmen, in denen die finstere Zukunft in erster Linie aus dem Computer stammt. Ein ums andere Mal greift das Regieduo Kristina Buozyte und Bruno Samper zwar auch auf digitale Effekte zurück, das Setting, das sie vor unseren Augen entfalten, ist jedoch wunderbar haptisch, ein matschig-braunes, waldiges Ödland mit seltsam glibberigen Wurmkreaturen. Gerade für eine Independent-Arbeit sieht das Szenenbild verdammt gut aus und trägt entscheidend dazu bei, von Anfang an eine ungemütliche, trostlose Atmosphäre zu kreieren. Unterstützt wird das bedrückende Gefühl durch eine schwermütige Musik.

Wo andere Filmemacher*innen das Worldbuilding rasch hinter sich bringen, um den eigentlichen Plot anzuschieben, halten Buozyte und Samper, die mit Brian Clark auch das Drehbuch schrieben, bewusst inne. Vesper Chronicles schreitet langsam voran, will das Publikum den Schauplatz regelrecht erfühlen lassen und wartet mit vielen gelungenen Ideen auf: Vespers Drohne ziert – der Volleyball aus der Tom-Hanks-Robinsonade Cast Away – Verschollen lässt grüßen – einen aufgemalten Smiley, der den Eindruck verstärken soll, das Mädchen sei bei seinen Ausflügen nicht allein. Im Wald gibt es spezielle rote Pflanzen, deren Berührung tödliche Folgen hat. Die Wohlhabenden in den Zitadellen halten sich mit den „Jugs“ künstlich gezüchtete Diener*innen, die, so wird angedeutet, wirklich alles, auch sexuelle Pflichten, erfüllen müssen. Details wie diese ergeben eine reichhaltig-originelle Story-Welt, in die man mehr und mehr hineingesogen wird.

Dem tristen Dasein, der bitteren Ausbeutung der Entrechteten setzt der Film eine aufregende junge Heldin entgegen, die sich nicht unterkriegen lassen will, sich erstaunliche wissenschaftliche Fähigkeiten angeeignet hat und in einem kleinen Labor erforscht, wie sie das Saatmonopol der Reichen brechen kann. Den emotionalen Kern bildet die innige Beziehung zu ihrem Vater, den sie, entgegen all den widrigen Umständen, aufopferungsvoll pflegt. In ihren Gesprächen und in Raffiella Chapmans nuancierter Darbietung kommt eine tiefe Verbundenheit zum Ausdruck, die jedoch, so viel sei verraten, auf dem Spiel steht. Denn Vesper Chronicles handelt nicht zuletzt vom Loslassen, von einer Emanzipation. Eine Bindung baut das wegen der Gegebenheiten schon ungewöhnlich erwachsene Mädchen auch zu Camellia auf, die ein brisantes Geheimnis mit sich herumträgt. 

Spannung stellt sich besonders dann ein, wenn Eddie Marsans Figur die Bühne betritt. In jeder Szene, in der der Widersacher zu sehen ist, strahlt der britische Charaktermime eine eindringlich-beunruhigende Präsenz aus. Sein Jonas hat sich ein eigenes Reich geschaffen, glaubt, über seine Kinder, ihre Körper, ihr Blut verfügen zu können, und will von verwandtschaftlichen Banden nichts mehr wissen. Um zu überleben, geht er über Leichen. Kein Zweifel: In seinem Fall hat die Apokalypse alles Schlechte im Menschen hervorgebracht.

Im Gegensatz zu vielen anderen Genrevertretern dürfte man Vesper Chronicles noch länger in Erinnerung behalten, weil das SciFi-Coming-of-Age-Abenteuer mit einem ungemein starken Bild endet. Die Welt im Film mag größtenteils in Trümmern liegen. Ein wenig Hoffnung keimt dennoch auf.

Vesper Chronicles (2022)

Der Film erzählt von einer 13-jährigen, die in einer Welt nach der ökologischen Katastrophe gemeinsam mit ihrem Vater ums Überleben kämpft. 

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Meinungen

Mark Winkler · 01.01.2023

Einer der besten Sify Filme seid langer Zeit.
Phantasievoll, Außergewöhnlich, umfassend stark.
Wenn man die 5 Mio. Budget bedenkt...ein Meisterwerk. Da können sich die meisten Hollywood Produktionen 3 Scheiben abschneiden!