Vaterlandsverräter (2011)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Aus dem Leben eines IM

Über die Stasi ist alles gesagt, könnte man denken. Aber die individuellen Geschichten sind noch kaum erzählt. Weder die Scham der Täter noch deren Versuch, mit der Schuld fertig zu werden. Wie spannend und berührend die Auseinandersetzung jenseits der politisch-rechtlichen Einordnung sein kann, zeigt Annekatrin Hendels eindringliche Dokumentation über den Schriftsteller und inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter Paul Gratzik.

Gleich mit dem furiosen Beginn wird deutlich, welchen Ton dieser ebenso emotionale wie streitbare Film anschlägt. Der Schriftsteller rudert die Regisseurin über einen See bei sich zu Hause in der Uckermark, als ihn eine Frage völlig aus der Fassung bringt. Ob es manchmal an ihm nage, dass er ein Spitzel war? Da wird er wütend und erinnert die Filmemacherin daran, dass er über dieses Thema nicht sprechen wolle. Aber natürlich redet jemand, der in spontanen Reaktionen so viel von seinem Inneren preisgibt, dann doch über das, was ihn seit Jahrzehnten quält. Und weil die Filmemacherin nicht locker ließ, entlockte sie ihm Bekenntnisse, die jenseits von Schuldfragen deutlich machen, wie widersprüchlich und dadurch so lebendig und faszinierend dieser alte Mann mit seinen 75 Jahren noch immer ist.

Paul Gratzik ist ein Arbeiterdichter im besten Sinn des Wortes. Der Sohn eines Landarbeiters hat Tischler gelernt und lange Jahre in der Produktion geschuftet. Die Lage der Menschen, über die er schrieb, kannte er aus eigenem Erleben. Sogar nach 1971, als er freier Schriftsteller wurde, kehrte er noch einmal als Teilzeitkraft in einen Industriebetrieb zurück, um den Alltag der Werktätigen nicht aus dem Auge zu verlieren. Von 1962 bis 1981 lieferte Paul Gratzik der Stasi Spitzelberichte über Schriftstellerkollegen und andere Künstler. Dann nahmen seine Gewissensnöte derart überhand, dass er die Zusammenarbeit beendete und sich gegenüber den Opfern outete. Aber noch heute ist er der Meinung, dass es sich der Versuch gelohnt habe, auf deutschem Boden eine Alternative zum Kapitalismus zu schaffen.

Auch Filmemacherin Annekatrin Hendel kommt aus der DDR. Sie kennt Paul Gratzik seit 1989, als sie ihn als junge Frau zum ersten Mal wegen einer Theaterarbeit besuchte. Die Regisseurin und Produzentin gehört zur letzten Generation, die im angeblichen Arbeiter- und Bauernstaat erwachsen wurde. Sie macht aus ihrer DDR-kritischen Haltung keinen Hehl, ist des öfteren im Bild zu sehen und bringt sich ganz bewusst als parteiischen Contrapart in den Film ein. Das erzeugt eine faszinierende Spannung, die zwischen Freundschaft und Streit, Neugier und Gegenrede die ganze Widersprüchlichkeit einer ebenso schwierigen wie immer wieder provokativen Persönlichkeit freilegt. Gerade durch die ständige Reibung kommt Annekatrin Hendel ihrem Protagonisten so nahe, wie es eine bloß einfühlsame Haltung niemals vermocht hätte.

Die Regisseurin setzt dem langjährigen Stasi-Informanten kein Denkmal, aber es geht ihr auch nicht um besserwisserisches Verurteilen. Sie schafft etwas, das keineswegs selbstverständlich ist: Einen Menschen zum Reden zu bringen über das, was er am liebsten vergessen würde. Auf diese Weise dringt sie zu einer universell-menschlichen Ebene vor, die den Zuschauer an vorschnellen Distanzierungen hindert. Die Versuchung, im Dienste einer vermeintlich guten Sache das eigene Gewissen zu überhören, gibt es in jedem System. Genauso wie den Wunsch, eigene Fehler so lange totzuschweigen, wie es irgendwie geht.
 

Vaterlandsverräter (2011)

Über die Stasi ist alles gesagt, könnte man denken. Aber die individuellen Geschichten sind noch kaum erzählt. Weder die Scham der Täter noch deren Versuch, mit der Schuld fertig zu werden. Wie spannend und berührend die Auseinandersetzung jenseits der politisch-rechtlichen Einordnung sein kann, zeigt Annekatrin Hendels eindringliche Dokumentation über den Schriftsteller und inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter Paul Gratzik.

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