Urville

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Champagner für alle

Gibt es die ideale Stadt? Wer weiß? Regisseurin Angela Christlieb hat sich jedenfalls auf die Suche nach ihr gemacht. Und dabei eine erfrischend-leichte Doku-Fiktion auf die Leinwand geworfen, die durch ihren liebevollen Humor besticht.
Urville ist vieles in einem: Dokumentation, weil die Menschen, die darin vorkommen, ganz real sind. Fiktion, weil Fantasien, Wünsche und Utopien eine zentrale Rolle spielen. Komödie, weil die interviewten Menschen lustige Typen sind. Und Experimentalfilm, weil das alles höchst spielerisch und zum Teil mit verfremdenden Mitteln erzählt wird.

Die Regisseurin begibt sich in ihrem zweiten Langfilm auf eine Reise zu drei französischen Dörfern, die alle „Urville“ heißen. Diese kleinen Lebensgemeinschaften von zum Teil nur 60 oder 150 Menschen sind einerseits ganz real, zugleich aber mythisch überhöht. Schwingt doch in dem Namen „Urville“ so etwas wie die „Ur-Stadt“ oder das „Ur-Dorf“ mit, also der Gedanke an eine Keimzelle alles menschlichen Zusammenlebens. Und damit auch so etwas von einem Modell oder Vorbild oder Ideal.

„Urville“ in der vogesischen Ebene ist die erste Station. Der Ort ist so klein, dass der Bürgermeister erst mal das verwaiste Ortsschild aus der Scheune holen muss, um dem Filmteam zu beweisen, dass es hier richtig ist. In seinem Dorf würde man sehr harmonisch zusammenleben, erzählt der gut gelaunte Bürgermeister – und fügt im nächsten Atemzug hinzu, dass die Welt vier Kilometer weiter schon wieder ganz anders aussehe. Da haben wir sie also, unsere Sehnsucht nach der friedlichen, heilen Welt, nach der überschaubaren kleinen Idylle inmitten einer feindlichen Umgebung, in der jeder nach seiner Fasson glücklich werden darf.

Wäre das nicht wunderbar? Jeder wäre frei, alle hätten dieselben Rechte, keiner müsste mehr arm sein und der Champagner käme aus dem Wasserhahn. In unserem zweiten „Urville“ – das in der Champagne liegt – scheint zumindest die Sache mit dem Champagner für alle schon mal gelöst zu sein. Der dort ansässigen Kellerei geht es offenbar so gut, dass die Dorfbewohner das edle Gesöff angeblich per Champagnerleitung frei Haus geliefert bekommen. Dadurch, so erzählt man es mit unübersehbarem Augenzwinkern, werde die Gesundheitsvorsorge auf ein ungeahntes Niveau gehoben. Weil der Champagner sowohl gegen Diabetes wie gegen Alzheimer helfe.

Aber auch im dritten „Urville“ müssen die glücklichen Einwohner nicht darben. Das liegt im Calvados und ist nach Aussage der Bürgermeisterin das schönste Dorf der Welt. Hier hat unter anderem der Weltmeister der Kutteln sein Geschäft. Und wem die kulinarische Spezialität zu schwer im Magen liegt, der kann jederzeit mit dem berühmten Apfelschnaps aus der Region seine Verdauung befördern.

Zwischen ihre Dorfbesuche – herrlich inszeniert durch ein außer Kontrolle geratenes Navigationsgerät – schneidet die Regisseurin Aufnahmen aus einem anderen „Urville“. Das ist eine erkennbar fiktive Stadt, viel größer und bunter als die französische Provinz. Hier gibt es, wie uns die Kommentarstimme versichert, eine Lebensqualität, die selbst die stolzen Bürgermeister(innen) aus den realen Dörfern vor Neid erblassen lassen müsste. Die Scheidungsrate liegt bei 0,7 Prozent, die Gefängnisse wurden abgeschafft und jeder hat ein Grundrecht auf eine eigene Wohnung.

Das klingt alles sehr lustig und das sind diese klug montierten Assoziationsketten mit ihrem gezielt gestreuten Bildwitz auch. Zugleich lenkt Angela Christlieb den Blick auf eine universellere Welt der Fantasien, Legenden und Erzählungen. Was wären wir ohne diese Übertreibungen, von denen wir zugleich wissen, dass sie der Realität nicht standhalten. Was wären wir ohne all diese charakterstarken Typen mit ihren zum Teil verschrobenen Ideen, von denen Angela Christlieb und Yvonne Mohr so erstaunlich viele vor die Kamera bekommen konnten? Was wären unsere Dörfer und Städte ohne all diese Buntheit an Lebensentwürfen? Vielleicht gut organisiert und geplant. Aber auf keinen Fall ideal.

Urville

Gibt es die ideale Stadt? Wer weiß? Regisseurin Angela Christlieb hat sich jedenfalls auf die Suche nach ihr gemacht. Und dabei eine erfrischend-leichte Doku-Fiktion auf die Leinwand geworfen, die durch ihren liebevollen Humor besticht.
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