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Kim Seong-hun schildert in „Tunnel“ eine Katastrophe und deren Folgen – ohne Pathos, dafür mit erstaunlichem Witz und einer ordentlichen Portion Wahrheit, die angemessen bitter schmeckt.

Tunnel (2016)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

„Wie fühlen Sie sich gerade?“

Lee Jung-soo (Ha Jung-woo) ist 38 Jahre alt und arbeitet als Autohändler. Am Tag, als wir ihn kennenlernen, ist er superbusy. Während er über die Autobahn fährt und Fritten von der Tanke snackt, telefoniert er nebenbei mit seiner Frau Se-hyun (Bae Doona). Die gemeinsame Tochter hat Geburtstag und wünscht sich einen Hund. „Zu viele Haare“, weiß Jung-soo. Aber immerhin hat er eine Sahnetorte besorgt. Um „circa 17.59 Uhr“ will er zu Hause sein. Vorher muss er nur noch schnell per Handy ein wichtiges Geschäft abschließen und kurz in die Werkstatt. Was soll schon schiefgehen?

Nun, so einiges. „Tunnel voraus“, kündigt die nette Navi-Stimme an. Und plötzlich passiert eine Katastrophe: Nachdem zunächst die Beleuchtung ausfällt, stürzt der knapp zwei Kilometer lange Tunnel ein und begräbt Jung-soos Auto unter den Betonmassen. Allein die furiose Inszenierung dieses Albtraum-Moments macht Kim Seong-huns Tunnel bereits zu einem wirklich bemerkenswerten Film. Doch es geht nicht minder spannend weiter. Jung-soo überlebt den Vorfall unverletzt und kann mit seinem Mobiltelefon Hilfe rufen. Kurze Zeit später ist Jung-soo unfreiwillig mitten in einer fernmündlichen Live-Übertragung. „Wie fühlen Sie sich gerade?“, wird er von einem Journalisten gefragt. Und dies ist nur eine von vielen Passagen, in denen Seong-hun, der auch das Drehbuch verfasste, einen sehr bösen, schwarzen Humor in seine dramatische Geschichte einfließen lässt.

Diverse Elemente aus Tunnel könnten auch aus einem klassischen Hollywood-Blockbuster stammen. Die visuelle Umsetzung – von der Kameraarbeit über die Montage bis hin zu den Effekten – ist vorzüglich. Und der Wettlauf gegen die Zeit, der mit Seong-huns Rettung beginnt, ist ein gängiges narratives Prinzip. In etlichen Details allerdings ist das südkoreanische Werk auf ganz wunderbare Weise eigentümlich. Denn die Ausnahmesituation führt – zum Glück für uns als Publikum – nicht zu einer pathetischen Heldenerzählung, in der alle über sich hinauswachsen und am Ende das ganze Land stolz sein darf, weil es durch Entschlossenheit, Courage oder wenigstens Daumendrücken dazu beigetragen hat, dass ein Einzelner mit großem Aufwand gerettet werden konnte.

Nein, die Dinge sind schon etwas komplizierter. Zunächst einmal ist der Einsturz des Tunnels keine durch höhere Gewalt verursachte Tragödie, sondern lässt sich eindeutig auf Baupfusch zurückführen. Die Pläne? Nicht zuverlässig. Und auch die Mittel, die dem Rettungsdienstleiter Dae-kyung (Oh Dal-su) und dessen Team zur Verfügung gestellt werden, lassen gehörig zu wünschen übrig. Die Drohne, die Jung-soos Standort ausfindig machen soll, versagt rasch. Und die ehrwürdige Ministerin (Kim Hae-sook) weiß auch nicht so recht, was zu tun ist. Je länger die Aktion dauert, desto absurder wird alles. Nach sämtlichen Fehlschlägen – sollte man die Sache wirklich noch fortsetzen? Lohnt sich das denn überhaupt noch? Die Mehrheit der Bevölkerung meint jedenfalls irgendwann: nein. So bitter würden uns Roland Emmerich oder Michael Bay gewiss nie die Denkweise der Menschheit vor Augen führen. Aber Seong-hun ist exakt an diesen Dynamiken und moralischen Fragen, kurzum an der Wahrhaftigkeit interessiert.

Darüber hinaus gelingen ihm als Regisseur und Autor immer wieder einnehmende Szenen. Etwa wenn Se-hyun beim Einkaufen die TV-Katastrophenmeldung am Rande registriert, bis ihr klar wird, dass es sich bei dem Verschütteten um ihren Mann handelt. Auch der Einsatzleiter Dae-kyung ist eine herrlich gezeichnete und von Oh Dal-su kongenial gespielte Figur: oft überfordert, aber stets engagiert und vor allem empathisch. Nicht zuletzt lebt der Film natürlich von seinem Hauptdarsteller Ha Jung-woo. Dessen Verkörperung vereint alles, was ein Mensch in Jung-soos Lage wohl empfinden muss. Die Frage „Wie fühlen Sie sich gerade?“ bedarf nie einer Antwort – wir können es jederzeit spüren.

Tunnel (2016)

Lebendig begraben! Dieser entsetzliche Alptraum wird für den Familienvater Jeong-Su auf einen Schlag katastrophale Realität. Als er auf einer Geschäftsreise durch einen Autobahntunnel fährt, geschieht das Unfassbare: Der Tunnel stürzt ein und begräbt Jeong-Sus Auto unter Betonmassen und Geröll. Jeong-Su überlebt das Unglück in einer engen Luftblase. Fieberhaft läuft eine große Rettungsaktion an. Allerdings kann es Tage oder Wochen dauern, bis man zu ihm vordringt. Als Jeong-Sus Vorräte an Wasser und Nahrung zu Neige gehen und auch der Telefonkontakt abbricht, dämmert die entsetzliche Befürchtung, dass man ihn nicht mehr lebend bergen wird. Gibt es noch Hoffnung?

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