Thomas Harlan – Wandersplitter

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Verletzlichkeit jenseits von Resignation

Wenn dieser Mann aus seinem Leben berichtet, braucht es keine konstruierte Kulisse und keine weiteren Inszenierungen, um das Publikum zu fesseln. Und so fängt die Kamera schlicht die Gestalt des Autoren, Theatermannes, Filmemachers (Torre Bela, Wundkanal) und politischen Aktivisten Thomas Harlan in der Umgebung eines Lungensanatoriums bei Berchtesgaden ein und vertraut ganz seinem sprachmagischen Talent, Geschichte und Geschichten packend und vielschichtig zu erzählen.
Regisseur Christoph Hübner bezeichnet seine Dokumentation als „Anti-Biographie“, da sich der Film aus bruchstückhaften, scheinbar keiner Regel folgenden Einzelepisoden rekrutiert und nicht im klassischen Sinne biographisch, sondern eher thematisch aufgebaut ist, was der widerborstigen, ambivalenten und sich jeder Kategorie entziehenden Persönlichkeit des Porträtierten angemessen entgegenkommt.

Thomas Harlan kam 1929 in Berlin als Sohn des Regisseurs Veit Harlan zur Welt, der mit propagandistischen Filmen wie Jud Süß die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten festigte. Er verkehrte auch privat mit Hitler und Goebbels, und es sind wohl die Umstände seiner Herkunft und seine zerrissene Haltung dem Vater gegenüber, die einen ganz entscheidenden Einfluss auf den verschlungenen Lebensweg von Thomas Harlan hatten, der einst gar die Kinos in Brand setzte, die Filme seines Vaters zeigten, der auch in der Nachkriegszeit weiterhin als Regisseur arbeitete. Hatte er diesen ehemaligen Nazi ebenso wie etliche andere einstige Schergen nach Ende des Zweiten Weltkriegs massiv verfolgt, enttarnt und angeklagt, so war er seinem Vater als Mensch dennoch liebevoll zugetan und hat ihn gar auf dem Sterbebett begleitet.

Die Metaphorik der „Wandersplitter“ als schwer zu lokalisierende, in den Körper eingedrungene, temporär schmerzhafte Verletzungen, die bedrohlich dem Herzen zustreben, stammt von Thomas Harlan selbst und charakterisiert auf beinahe zynisch-poetische Weise sein ebenso turbulentes wie kreatives Leben. Harlan verfasst Romane, Theaterstücke und arbeitet als Regisseur, wobei ein besonderer Akzent auf seiner bei Zeiten unwegsamen, aber kraftvollen Sprache und seinem wachen aktuellen und historischen Bewusstsein liegt, was nicht selten Skandale und Erschütterungen in der Öffentlichkeit auslöst. 1958 gründet er gemeinsam mit Klaus Kinski und Jörg Henle das Junge Ensemble in Berlin, wo das legendäre Stück „Ich selbst und kein Engel – Chronik aus dem Warschauer Ghetto“ uraufgeführt wird. Sein politisches Engagement gilt dem Widerstand gegen Diktatur und Faschismus auf der ganzen Welt, unter vielen anderen Aktionen unterstützt er in den 1970er Jahren die Widerstandsbewegung in Chile gegen Pinochet.

„Es gibt kaum eine größere Verdunklungsgefahr für die Wirklichkeit als die Zuneigung zu Urhebern von Wirklichkeiten“, philosophiert Thomas Harlan über die korrumpierende Eigenschaft von Liebe. Ebenso räsoniert er vor der Kamera über seine eigensinnigen Vorstellungen von Sprache und Schuld, über seinen Vater Veit und Adolf Hitler sowie über Gesellschaften von ewig Gestrigen und nachfolgende Generationen. Dabei ist es der exzentrische, präzise und doch auf seltsame Art verständnisvolle Blick auf das Weltgeschehen und seine Protagonisten, der den lauschenden Zuschauer gleichsam fasziniert und irritiert, denn gefällig ist Thomas Harlan nie gewesen und auch jetzt nicht, mit 78 Jahren und schwerst lungenkrank, was ihn nicht daran hinderte, im letzten Jahr seinen neusten Roman „Heldenfriedhof“ vorzulegen.

Es ist von den Filmemachern Christoph Hübner (Regie, Kamera) und Gabriele Voss (Ton, Montage) schon ein riskantes Unternehmen, eine Dokumentation über den Sohn eines Regisseurs zu drehen, der selbst einer ist, und dabei bewusst gänzlich auf Archiv-Material zu verzichten. Doch dieser Purismus schafft die eindringliche und bannende Atmosphäre gesteigerter Konzentration und Betroffenheit, die nicht wie sonst im Kino üblich über Bilder, sondern ausschließlich über die Imaginationskraft von Sprache entsteht. Als interaktive Innovation besteht nach der Vorführung von Thomas Harlan – Wandersplitter in einigen Kinos die Gelegenheit, mit den Filmemachern und weiteren Gästen nicht nur über den Film zu diskutieren, sondern gegebenenfalls auch weitere, auf einer umfangreichen DVD gesammelte „Splitter“ aus der Zusammenarbeit mit Thomas Harlan anzuschauen, so dass das Porträt und die Thematik praktisch über sich hinauswachsen und dem Medium Kino eine zusätzliche, öffentlich-soziale Komponente verleihen.

Thomas Harlan – Wandersplitter

Wenn dieser Mann aus seinem Leben berichtet, braucht es keine konstruierte Kulisse und keine weiteren Inszenierungen, um das Publikum zu fesseln.
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