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Ein junger Mann kehrt nach erfolgreichem Uniabschluss in den Ort seiner Kindheit zurück und muss sich entscheiden, welchen Weg er zukünftig einschlagen will.

The Wild Pear Tree (2018)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Abschied vom Gestern

Die Verbindung zwischen Literatur und Film ist so alt wie das Kino selbst. Und doch glaubt man bei jedem der Filme des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylans, dass gerade in ihnen dieses Band zwischen geschriebenem Wort und bewegten Bildern besonders deutlich zu spüren ist. Diese Verbindung war bereits deutlich in Ceylans letztem Film Winter Sleep (2014) zu spüren, für den er bereits die Palme d’Or gewann. Und auch in seinem neuen Werk „The Wild Pear Tree“ ist sie augenfällig — und das nicht nur deshalb, weil der Protagonist selbst von einer Karriere als Literat träumt. Diese Literalität ist der größte Trumpf des Films — und gleichzeitig eine nicht unerhebliche Schwäche, auch wenn er bereits kurz nach der Premiere als großes Meisterwerk gefeiert wurde.

Der Film erzählt im ruhigen Ton eines souveränen Erzählers von Sinan (Aydın Doğu Demirkol), der gerade seinen Universitätsabschluss in Çanakkale gemacht hat und der nun in das Dorf seiner Kindheit zurückkehrt, um sich dort zu entscheiden wie sein Leben weiter verlaufen soll. Noch eine einzige Prüfung steht aus, dann kann er in die Welt hinausgehen. Zwar hat er wie sein Vater den Beruf des Grundschullehrers studiert, doch er träumt davon, seinen ersten fertigen Roman, den er während des Studiums verfasst hat, zu veröffentlichen. Außerdem droht ihm auch noch der Militärdienst.

Und so sucht sich der junge Mann seinen Platz — nicht nur im Leben, sondern auch in der Gemeinschaft, die er eigentlich schon hinter sich gelassen zu haben glaubte: Er sieht seine Eltern wieder, die wegen der Spielsucht des Vaters Idris (Murat Cemcir) immer wieder in Streit geraten, weil die Zockerei mittlerweile einen gewaltigen Schuldenberg angehäuft hat. Er trifft Freunde wieder — und nicht immer sind diese Wiedersehen von reiner Freude geprägt. Er begegnet Hatice (Hazar Ergüçlü), einer schönen jungen Frau, die früher einmal mit seinem Freund Rizah zusammen war und die nun bald einen anderen heiraten wird — was später wohl auch deshalb in einer handfesten Schlägerei zwischen den beiden mündet, weil Sinan selbst einmal in Hatice verliebt war und es vielleicht immer noch ist. 

Es kommen andere Begegnungen hinzu: Einmal trifft Sinan zwei junge Imame und verstrickt sich in der wortlastigsten und anstrengendsten Passage dieses sowieso nicht unterkomplexen Films in einen langen Diskurs mit ihnen. Sehr viel vergnüglicher und für Nuri Bilge Ceylan geradezu heiter ist ein Aufeinandertreffen Sinans mit einem lokalen Schriftsteller, den er so lange mit Fragen und Entgegnungen nervt, bis dieser schließlich die Fassung verliert und eine hörenswerte Schimpfkanonade von sich gibt. 

Obgleich es solche Einschübe von Humor und kurz aufflammendem Witz immer wieder gibt (bei Nuri Bilge Ceylan sind sie eher eine Seltenheit), überwiegt Melancholie, Tristesse und die Ahnung von Zerfall und Niedergang des ländlichen Lebens -  sowieso eines der Metathemen im Schaffen Ceylans neben den Themen der Künstlerschaft, der Selbstverwirklichung und dem Verhaftetsein in gesellschaftlichen wie familiären Traditionen.

Rund zwei Drittel seiner Laufzeit plätschert The Wild Pear Tree vor sich hin, macht sich immer wieder auf Spaziergänge, auf Ab- und Umwege, um dann in der letzten Stunde deutlich anzuziehen und endlich einen Sog zu entfalten, den man so anfangs nicht kommen sah. 

Mit seiner gewaltigen Laufzeit von mehr als drei Stunden, dem überwiegend gemächlichen Erzähltempo sowie den enorm verdichteten Dialogen, die immer wieder die Aufmerksamkeit von den Bildern auf den Text unter ihnen lenken, ist The Wild Pear Tree ein würdiger Schlusspunkt des Wettbewerbs in Cannes und nach zehn Tagen fordernder Kinokost auch eine echte Herausforderung — und für mich nicht der Höhepunkt des Wettbewerbs. Zu selten lässt Nuri Bilge Ceylan die Bilder einfach fließen und vertraut ihnen mehr als den Dialogen, die sich wie ein dichtes Gewebe über die Gesichter, die Landschaften, die Interieurs legen. Vielleicht passt das aber auch ganz gut zu den Suchbewegungen des Kinos generell, wie es dieses Jahr in Cannes deutlich zu spüren war, Womöglich bedeutet die Rückbesinnung auf die Traditionen des Kinos, die „konservative Revolution“ im Angesicht von Netflix & Co. ja auch eine Orientierung am literarischen Erbe, ohne das das Kino niemals hätte entstehen können. Bei aller Meisterschaft, die Nuri Bilge Ceylan mit seinem Film unter Beweis stellt: Er fühlt sich auch wie ein Rückschritt an, ein vielleicht notwendiges Innehalten in einer Welt der Bilderströme und -fluten. Allerdings stellt sich angesichts dieser Diagnose auch die Frage, ob das Kino mit solch einer elitären, bildungsbürgerlichen Herangehensweise gerettet werden kann. Es überwiegt — zumindest bei mir — die Skepsis.

The Wild Pear Tree (2018)

Schon immer wollte der Literatur begeisterte Sinan ein Schriftsteller werden. Als er in seinem Geburtsort in Anatolien zurückkehrt, verwendet er all seine Energie darauf, das notwendige Geld für eine Veröffentlichung zusammen zu bekommen. Doch die drückenden schulden seines Vaters erschweren das Vorhaben. 

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