The Turin Horse

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Der Kutscher, seine Tochter, ihr Pferd und das Cello des Todes

Béla Tarrs unglaubliches Werk „A torinói ló“ markiert gleich zwei Enden: Zum einen das Ende des Philosophen Friedrich Nietzsche (und damit, wie jeder Nietzscheaner meint, das Ende jeglicher Philosophie) und zum anderen das Ende des Kinos, wie wir es kennen. An einem Ort, der sich in diesem Jahr auf die Fahnen geschrieben hat, die Zukunft des Kinos zu markieren, kommt das schon beinahe einer Kampfansage gleich, die sich mit Wucht jeglicher Zuordnung verweigert und so ein trotziges Eigenleben fernab jedes merkantilen Gedankens an die Ware Film führt.
Es ist eine der berühmtesten Geschichte der Philosophiegeschichte: Kurz bevor der Philosoph Friedrich Nietzsche dem Wahnsinn verfällt, so geht die Legende, habe er ein erschöpftes Pferd unter Tränen umarmt, das kurz zuvor von seinem Kutscher ausgepeitscht wurde. Danach war der Geist Nietzsches nur für kurze Zeit wahrnehmbar aktiv, er verschickt die so genannten „Wahnzettel“, um kurz davor in einen Zustand völliger geistiger Umnachtung zu verfallen, der bis zu seinem Tod im Jahre 1900 anhielt. A torinói ló erzählt nun die (freilich frei erfundene) Geschichte jenes Pferdes, das Nietzsche einst zu Tränen rührte und die niederdrückende Geschichte des Kutschers (János Derzsi) und seiner Tochter Erika Bók), die ihr ärmliches Dasein in einer sturmumtosten Hütte irgendwo auf dem Land fristen.

In sechs Tage hat Béla Tarr seine cineastische Todesfuge eingeteilt, die sich auf den ersten Blick kaum voneinander unterscheiden. Aufstehen, das mühsame Ankleiden, das immergleiche Essen (eine gekochte Kartoffel pro Person), die kleinen Beschäftigungen des Alltags, die Sorge um das Pferd und am Ende das Zubettgehen – sehr viel mehr passiert nicht. Dazu eine bis auf die Spitze getriebene Verknappung der Sprache, ein bis zum Exzess getriebener Minimalismus der Kamera, die in betörenden Schwarzweiß-Aufnahmen die Oberflächenstrukturen beinahe plastisch werden lässt, die in Ellipsen geschaltete Musik, die die immergleichen Melodiefragmente wie eine Beschwörungsformel wiederholt – und dies alles in 143 Kinominuten festgehalten. Das Erstaunliche daran ist, dass der Film in keinem Moment je langweilig wird, sondern förmlich dazu einlädt, eine ganz neue filmische Welt zu betreten, die rau ist und abweisend, voller Zeichen des Verfalls und des Todes und von solch bitterer Armut und leiser Verzweiflung, dass es schmerzt.

A torinói ló ist kein Film, sondern ein kaltes, klares und strenges Kunstwerk auf Zelluloid, eine visuell erfahrbar gemachte Installation, ein cineastischer Leidensweg über die Verlorenheit der Welt und der Kreatur. Jeder Kreatur. Vor dem Beginn dieses Films sollten eigentlich die Worte aus Dantes Inferno stehen: „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“

Bereits im Vorfeld hatte Béla Tarr angekündigt, A torinói ló sei sein letzter Film. Nachdem man diesen monolithischen Block gesehen hat, der sich mit keinem anderen Film des Wettbewerbs (und auch sonst mit keinem Film) vergleichen lässt, bekommt der Film gleich noch eine vollkommen andere Bedeutung. Er ist das Testament eines Filmkünstlers und ein Endpunkt des Kinos, das ähnlich wie Kasimir Malewitschs Bild Das schwarze Quadrat auf weißem Grund aus dem Jahre 1915 die Frage aufwirft: „Was soll jetzt noch kommen?“

The Turin Horse

Béla Tarrs unglaubliches Werk „A torinói ló“ markiert gleich zwei Enden: Zum einen das Ende des Philosophen Friedrich Nietzsche (und damit, wie jeder Nietzscheaner meint, das Ende jeglicher Philosophie) und zum anderen das Ende des Kinos, wie wir es kennen.
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