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In seinen Essays erzählt Mark Cousins gern eigenwillige Geschichten. Auf seine 15-stündige, breit angelegte „Story of Film“ folgt nun die sehr persönliche „Story of Looking“.

The Story of Looking (2021)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Im Bett mit Mark Cousins

Mark Cousins liebt das Kino, und das Kino liebt ihn. Denn die Liebesbriefe, die der 1965 in Nordirland geborene und im schottischen Edinburgh lebende Filmemacher, Filmkritiker und Kurator in regelmäßigen Abständen an das Kino schickt, lassen sich vollumfänglich nur in einem vollbesetzten Kinosaal genießen. Sein neues Werk ist eine Liebeserklärung an gleich mehrere Dinge.

Der Anlass dieses Essays ist ein gravierender Eingriff. Cousins hat eine Linsentrübung im linken Auge, die operativ behoben werden muss. Der Mann, der das Sehen so liebt, hat Angst, sein Augenlicht zu verlieren. Einen Tag vor der Operation liegt er im Bett, denkt über die Geschichte des Sehens nach und nimmt uns mit auf einen Spaziergang, der die Grenzen von Raum und Zeit überwindet.

Wie üblich führt Cousins selbst durch den Film. Seine unverwechselbare Stimme, butterweich und gleichzeitig einzelne Vokale ungewohnt und hart betonend, schildert die Bedeutung des Sehens in seinem eigenen Leben. Seit seiner ersten Erinnerung an einen menschenleeren irischen Strand sei die visuelle Welt eine Freude für ihn gewesen und später zu seinem Beruf geworden, sagt Cousins, die Kamera nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Das Bett wird er vor seiner Operation – anders als ursprünglich geplant – nicht mehr verlassen. Die Bilder des Herbstspaziergangs durch Edinburgh, die er uns zeigt, sind an einem anderen Tag entstanden; ebenso die restlichen von Cousins auf zahlreichen Reisen gesammelten Impressionen, die er in diesem Film mit Bildern aus der Literatur-, Kunst- und Filmgeschichte zu einem schillernden Kaleidoskop des Sehens zusammensetzt.

Als roter Faden dient ihm die Entwicklung der Sehfähigkeit des Menschen im Allgemeinen, die er mit seiner eigenen Entwicklung spiegelt. Neugeborene sehen zunächst nur verschwommen, weil ihre Augen noch nicht vollständig ausgebildet sind. Danach sehen sie Bewegung, dann die Augen anderer und schließlich Farben. Bei Cousins führt das zu direkten Linien, die er von Bergmans Persona (1966) über unscharfe Schnappschüsse zu bewusst gewählter Unschärfe in der Malerei und dem Ende von Billy Wilders Boulevard der Dämmerung (1950) zieht. Das Blau in Yimou Zhangs Hero (2002) stellt er neben das der Moschee in Isfahan und die Tatsache, dass weder bei Homer noch in der Bibel die Farbe Blau vorkommt. Einstürzende Altbauten stehen neben umstürzenden Bäumen und im Wind zitternden Pilzen. Marina Abramović‘ Performance The Artist is Present geht einen Dialog mit den Augen der Ziege in Tarkowskis Iwans Kindheit (1962) ein und das Grün in Alfred Hitchcocks Vertigo (1958) einen mit Goethes Farbenlehre.

Die Assoziationsketten in diesem Filmessay sind endlos und stets an Cousins‘ eigenes Leben rückgekoppelt. Es geht um Farbe und Schwarz-Weiß, um Licht und Schatten, um den Blick auf sich selbst und den Blick auf die anderen, der mitfühlend, hasserfüllt oder sexualisiert sein kann. Cousins diskutiert den eigenen Körper, zeigt sich ungeniert und macht uns (wie so viele den Filmkanon prägende Regisseure) zu Voyeuren. Am Ende führen die ebenso klugen wie frei flottierenden Überlegungen dazu, dass auch wir Betrachtenden über uns selbst und unser Verhältnis zum Sehen nachdenken. 

Mark Cousins denkt derweil über seine eigene Zukunft nach und fabuliert ein zukünftiges Ich herbei, das 2031 nach Schweden zieht und dort weitere Jahrzehnte in der Zukunft als alter Mann auf sein Leben zurückblickt. Bis dahin dreht er hoffentlich noch viele Filme (wie The Eyes of Orson Welles und The Storms of Jeremy Thomas, um nur zwei seiner spannendsten zu nennen) und schreibt noch viele Bücher wie das erstmals 2017 publizierte The Story of Looking, auf dem dieser Film basiert. Er ist nicht nur eine Liebeserklärung ans Kino, an Edinburgh und an digitale Nähe in pandemiegeplagten Abstandszeiten, sondern auch eine an das Wunder des Sehens.

The Story of Looking (2021)

Filmemacher Mark Cousins („The Story of Film“) hat Probleme mit seinen Augen, ein medizinischer Eingriff ist unumgänglich. Am Tag vor der Operation denkt er darüber nach, was das Sehen für ihn persönlich bedeutet und was für eine Rolle es in unser aller Leben spielt. In einer Zeit, in der wir von allen Seiten mit visuellen Eindrücken bombardiert werden, ist das genaue Hinschauen, so Cousins, essentieller denn je – weil es uns zu denen macht, die wir sind: Es bildet den Kern unserer menschlichen Erfahrung und unserer Empathie, den Ausgangspunkt unseres Erkundens des Lebens in all seiner Komplexität und mit all seinen Widersprüchen.

In seinem preisgekrönten Essayfilm, der zu Teilen auf seinem eigenen Bestseller „The Story of Looking“ basiert, führt uns Cousins durch die Reichtümer der sichtbaren Welt. Vor unseren Augen entsteht ein funkelndes Kaleidoskop aus Bildern mit mannigfaltigen Bezügen zur Kunstgeschichte, Biologie, Neurowissenschaft, Psychologie, Poesie und Philosophie. (Quelle: Salzgeber)

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