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Ein Engländer begibt sich in diesem Drama des Regisseurs François Girard auf die Suche nach seinem polnisch-jüdischen Ziehbruder, der wie kein Zweiter Geige spielen konnte. Er weiß nicht, warum dieser vor 35 Jahren ohne ein Wort verschwand und seine Aussicht auf eine Weltkarriere in den Wind schlug.

The Song of Names (2019)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Ein Geigengenie verschwindet

Im Jahr 1951 steht in London der mit Spannung erwartete erste Konzertauftritt des 23-jährigen Geigers David Rapoport (Jonah Hauer-King) auf einer internationalen Bühne bevor. Doch dann bricht hinter den Kulissen des vollbesetzten Konzerthauses für den Veranstalter Gilbert Simmonds (Stanley Townsend) und seinen 23-jährigen Sohn Martin (Gerran Howell) eine Welt zusammen. Denn das Musikgenie erscheint nicht und verschwindet zugleich spurlos aus dem Leben der Familie Simmonds.

Gilbert hatte den jüdischen Jungen aus Polen vor 14 Jahren in seinem Haus aufgenommen, um die musikalische Entwicklung des Ausnahmetalents zu fördern. Martin wuchs mit ihm auf und betrachtete ihn als Bruder. Er kann Dovidl, wie der Junge daheim genannt werden wollte, nicht vergessen. 35 Jahre später begibt er sich, einer vagen Spur folgend, auf eine Reise nach Polen und nach New York, um ihn zu finden. Es begleiten ihn die Erinnerungen an sein Aufwachsen während des Krieges mit dem rebellischen, von einer Aura der Einsamkeit umgebenen Jungen.

Dass sich der musikaffine kanadische Regisseur François Girard auf gefühlsstarke Dramen versteht, bewies er schon 1998 mit Die rote Violine. Auch in dieser Geschichte, die auf dem gleichnamigen Roman von Norman Lebrecht basiert, geht es um die Ausdruckskraft der Geigenmusik, um das gewisse Etwas, das ein Künstlergenie vom lediglich guten Interpreten unterscheidet. Und es geht um eine Wirklichkeit, die so schrecklich ist, dass sie in der bereits existierenden Kunst keinen Ausdruck findet. Dovidl muss während des Krieges um seine Familie bangen, die aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka deportiert wurde. Dass es sich um ein Vernichtungslager handelt, weiß er da noch nicht. Nach dem Krieg kann er die klassische Musik nicht einfach weiterspielen; die Welt kann nicht so tun, als wäre nichts geschehen.

Indem Dovidl dann 1951 einfach verschwindet, verweist er symbolisch auf das Verschwinden der Holocaust-Opfer aus Gesellschaften, die sich mit dem Verlust nicht lange aufhielten. Als Jude fühlt er sich mit seinem Schmerz von der Realität der Nichtjuden abgeschnitten. Aber in der gemeinsamen Kindheit ist, so empfindet es Martin (Tim Roth) noch als erwachsener Mann, doch auch ein starkes Band zwischen Dovidl und ihm entstanden. So entgegnet Martin seiner Frau Helen (Catherine McCormack), die ihn fragt, warum er nach 35 Jahren seine Zeit nicht lieber seiner Ehe als der Suche nach Dovidl widmet, dieser habe vielleicht niemanden außer ihm.

Eine zentrale Rolle spielt in diesem Drama auch, wie der Titel anklingen lässt, die Musik und ihre Macht, unvergessliche Eindrücke zu schaffen. Howard Shore hat eine melodramatische Filmmusik komponiert und dazu zwei eindringliche Varianten des titelgebenden Liedes. Außerdem erklingen in Auszügen einige stets beeindruckende klassische Stücke, die zu Dovidls Repertoire gehören. Aber auch weitere Themen beanspruchen Raum, beispielsweise Dovidls spannungsreiches Verhältnis zum jüdischen Glauben. Unter der inhaltlichen Fracht beginnt die Geschichte bald zu ächzen und sich holprig-eigenwillige Wege zu bahnen. Merkwürdigerweise wird zum Beispiel Dovidls großes Talent im Hause Simmonds nicht durch professionellen Unterricht gefördert. Irgendwie ernennt sich Martin zum Begleiter am Klavier, der Dovidls Übungspensum überwacht.

Dovidl hält sich sowieso selbst für den Besten und lässt sich kaum etwas sagen. Für den geringschätzig schauenden, provokanten Rebell und für Martin als hochnäsig-korrektem kleinen Engländer fanden sich mit Luke Doyle, beziehungsweise Misha Handley zwei hervorragende Kinderdarsteller. Aber wenn sie zum Beispiel auf ihren Rädern zu ihrem Versteck fahren, kann die Inszenierung ihrer Zweisamkeit weniger Reiz abgewinnen, als der lieblichen Herbstlandschaft.

Die beiden Darsteller Dovidls und Martins als junge Männer bleiben eher blass und der Schilderung ihrer Freundschaft mangelt es weiterhin an Substanz. Von der etwas abgründigen Radikalität des Kindes Dovidl besitzt der junge Mann nicht mehr viel, der Charakter erhält überhaupt im Film eher über die Gedanken anderer Kontur, als dass er seine Persönlichkeit aus eigener Kraft entfaltet.

Tim Roth spielt Martin als Erwachsenen wie einen verwundeten, müde gewordenen Getriebenen. So wird seine Rolle zur interessanten Hauptfigur, die, trotz zuweilen banaler Reiseszenen – er verlässt die Wohnung, er kehrt zurück -, oder langweiliger Ehegespräche daheim, eine gewisse innere Spannung ausdrückt. Clive Owen bemüht sich, als erwachsener Dovidl hinter seinem Bart um Ausdruck, der sich in feurigen, ernsten Blicken äußert. Aber er hat nicht allzu viele Szenen.

Falls Frauen überhaupt vorkommen, dann als brave Begleitpersonen. Eine Ausnahme macht lediglich die Polin Anna (Magdalena Cielecka), eine ehemalige Freundin Dovidls, die Martin in Warschau besucht. Sie würzt die Geschichte als nüchterne Figur, die ihr großes Herz — wohl unter dem Eindruck des Lebens im Sozialismus und der unerfüllten Liebe – im Zaume hält.

Martin klappert brav die Stationen seiner Reise und seiner Erinnerungen ab und die Zuschauer*innen doch etwas ratlos mit ihm. Dovidl bewahrt sich mit seiner Unberechenbarkeit bis zuletzt etwas Rätselhaftes, das irritierend wirkt. Die gute Absicht, ein emotionales Künstlerdrama mit dem Gedenken an die Opfer des Holocaust zu verbinden, serviert der Film hingegen zu platt. Sie reicht hier nicht aus für ein wirklich spannendes, bewegendes Werk.

The Song of Names (2019)

Als in Europa der Zweite Weltkrieg ausbricht, lernt der neunjährige, in London geborene und aufgewachsene Martin den aus Warschau geflohenen gleichaltrigen Dovidl kenne, die damals schon auf der Geige brilliert und den Martins Familie bei sich als Adoptivsohn aufgenommen hat. Jahre später, kurz vor seinem ersten großen Auftritt als Geiger, verschwindet Dovidl spurlos und lässt seine erwartungsvolle Familie beschämt zurück. Und abermals später, lernt der mittlerweile 56 Jahre alte Martin einen jungen Geiger kennen, der ganz offensichtlich von Dovidl unterrichtet wurde.

 

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Meinungen

Martin Zopick · 24.06.2023

Jüdische Spurensuche nach einer Jugendfreundschaft zweier Geigenvirtuosen. Martin (Misha Handley, Tim Roth) und Dovidl (Luke Doyle, Clive Owen) begegnen sich während des Weltkrieges, Die Jungs verlieren sich wieder aus den Augen als Dovidl plötzlich und unerwartet vor einem bedeutenden Konzert verschwindet. Das ist die erste Schwierigkeit, die es zu verstehen gilt, wenn man mit dem Plot konfrontiert wird und nicht allzu viel über jüdische Rituale weiß.
Dass sich Martin dann auf die Suche nach Dovidl macht, liegt innerhalb des Verständnisrahmens von tiefen Freundschaften. Warum bei Nicht-Einhaltung des Agreements mit dem Tode bzw. der Ermordung gedroht wird, ist schon schwerer nachvollziehbar. Unterstreicht aber die Ernsthaftigkeit der Absichten. Beim Wiedersehen nach über 30 Jahren, verwundert die Klopperei im Auto schon etwas. Am Ende erfährt man noch etwas über den Titel, bevor sich der eine vom Anderen und uns verabschiedet nicht ohne jüdisch philosophische Betrachtungen von sich zu geben. Was das Verständnis auch nicht gerade erleichtert ist die mehrfach wechselnde Rollenbesetzung.
Bleiben als positives Ergebnis die elektrifizierenden Geigensoli. Hier glänzt Tim Roth fast wie seinerzeit als Ozeanpianist.