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Mit seinem Regiedebüt legt der Chilene Felipe Gálvez einen ebenso fordernden wie faszinierenden Film vor. Er erzählt aus verschiedenen Perspektiven vom Anfang des 20. Jahrhunderts und macht deutlich, dass die eine Wahrheit wohl nie gefunden werden kann.

Colonos (2023)

Eine Filmkritik von Verena Schmöller

An der Geschichte arbeiten

Dies ist ein eigenwilliger Film. Felipe Gálvez erzählt in „Los colonos“ eine Geschichte aus dem Süden Chiles zu Beginn des 20. Jahrhunderts, er beschäftigt sich also mit der Vergangenheit seines Landes, und er tut dies aus verschiedenen Perspektiven – so wie Geschichtsschreibung eigentlich sein sollte. Und doch bleibt man am Ende etwas ratlos, aber auch fasziniert zurück.

Zunächst wirft der Film einen Blick auf die unendlichen Weiten Patagoniens im Jahr 1901. Ein Großteil des Landes muss erst noch erschlossen werden, die Großgrundbesitzer haben das Sagen und auch die Macht, über Leben und Tod ihrer Arbeiter zu entscheiden. Wer sich verletzt oder einen Arm verliert, verliert auch schnell sein Leben. Denn einen Kranken zu pflegen – die Zeit und Kraft hat niemand. Landbesitzer José Menéndez (Alfredo Castro) will neue Wege für seine Viehzucht bis zum Atlantik suchen und schickt hierzu einen kleinen Trupp an Männern los, welcher die Gegend frei und sicher machen soll.

Das Sagen in der Gruppe hat Leutnant MacLennan (Mark Stanley), er führt den Mestizen Segundo (Camilo Arancibia) und einen Amerikaner (Benjamin Westfall) durch die Steppe, immer auf der Suche nach den „indios“, also der dort lebenden indigenen Bevölkerung, die sie auslöschen sollen. Letzterer sei bekannt für seine skrupellose Art, er rieche die Indigenen förmlich und sei zu aller Gewalt bereit. Als sie in ein kleines Dorf kommen, kurzen Prozess machen und am Ende Körperteile von den Leichen als Beweismittel für ihr Morden abschneiden, ist das Publikum Zeuge. Immer wieder wird die allwissende Erzählhaltung von der Perspektive des Mestizen abgelöst, der das Geschehen stoisch über sich ergehen lässt, gleichzeitig aber mit wachen Augen alles beobachtet.

Der erste Teil von Gálvez‘ Spielfilmdebüt zieht sich ein wenig, spiegelt gleichzeitig aber genau wider, was den drei Männern widerfährt. Begleitet werden die eindrucksvollen Bilder von einem sorgfältig komponierten Sounddesign, das mal an Werner Herzogs Urwaldfilm Aguirre – Der Zorn Gottes erinnert, mal die Filme von Landsmann Alejandro Jodorowsky in Erinnerung ruft, also in den 1970er Jahren verhaftet scheint, dann aber auch immer wieder ganz zeitgenössische Klänge verwendet.

Mit dem Kinderlied „All the Pretty Horses“ gelingt dem Film schließlich ein wundervoller Bruch. Das liegt einerseits am Arrangement und an der Inszenierung des Liedes, das zunächst im Off zu hören ist und dann in den dargestellten Filmraum wechselt: Das Lied wird Menéndez von seiner Tochter am Klavier und von den Enkelinnen vorgetragen. Diese Szene ist ein kraftvoller Kontrapunkt zum beängstigenden Mäandern durch die Wildnis, und sie läutet ein neues Kapitel von Los colonos ein, das Jahre später auf dem Anwesen von Menéndez spielt. 

Im zweiten Teil des Films versucht ein Gesandter von Präsident Pedro Montt, die Geschehnisse in Patagonien nachzuvollziehen. Die Familie von Menéndez muss Vicuña (Marcelo Alonso) Rede und Antwort stehen, und schnell wird deutlich, dass hier keiner die Wahrheit erzählt. Auch als Vicuña den mittlerweile sesshaft gewordenen Segundo in seinem Zuhause auf Chiloé befragt, spiegelt das die Machtverhältnisse im Land wider. Um das lückenlose Aufdecken von Wahrheiten geht es hier keinem.

Felipe Gálvez wendet sich in Los colonos der weiter zurückliegenden Geschichte seines Landes zu und stellt vor allem Fragen zum Kolonialismus und dem Umgang mit der indigenen Bevölkerung, versucht aber nicht, diese zu beantworten. Das macht es für ein internationales Publikum – egal, ob bei seiner Weltpremiere in Cannes oder nun auf dem Filmfest München – nicht immer leicht, den dargestellten und vor allem den im Film erzählten Geschehnissen zu folgen, aber man bekommt ein Gespür dafür, wie wichtig diese Geschichtsarbeit für das Land ist, das sich in den vergangenen Jahren zunächst der Aufarbeitung der jüngsten Geschichte – der Zeit der Diktatur unter Pinochet – gewidmet hat. Dass darüber hinaus noch einiges zu tun ist, macht Los colonos auf intensive Weise spürbar.

Colonos (2023)

Im Jahr 1901 artet eine vermeintliche Erkundungsmission im Süden Chiles zu einer brutalen Jagd auf die indigenen Ona aus. Als acht Jahre später ein direkter Gesandter des Präsidenten das inzwischen besiedelte Land besucht, sieht der damalige Teilnehmer Segundo eine Chance, sein Gewissen zu bereinigen. 

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