The Selfish Giant

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Im Garten eines Schrotthändlers

Am Anfang von The Selfish Giant liegt Arbor (Conner Chapman) unter einem Bett und wütet herum. Immer wieder schlägt er gegen den Lattenrost, wehrt sich gegen einen Angreifer, flucht und boxt. Dann kommt eine zweite Stimme hinzu, sein bester Freund Swifty (Shan Thomas) weckt und beruhigt ihn. Ihre Hände umschließen sich und werden in einer Großaufnahme eingefasst. Schon hier zeigt sich ihre enge Verbindung, ihre tiefe Freundschaft, die das Herz von Clio Barnards großartigem Film The Selfish Giant ausmacht.
Arbor ist hyperaktiv und nimmt Tabletten, aber sein drogensüchtiger älterer Bruder (Elliott Tittensor) stiehlt sie ihm immer wieder. Seine Mutter (Rebecca Manley) kann beide Söhne nicht kontrollieren, sie erscheint hilflos – und weitere Hilfe gibt es im Haus nicht. Also ist Arbor seiner Wut ausgeliefert, er scheint verzweifelt auf der Suche nach Beschäftigung zu sein, klettert eine Laterne hoch und streunt durch die Gegend. Vor allem aber sammelt er Altmetall und Schrott, angetrieben von einer mitunter irrwitzigen Gier nach Geld. Außerdem will er auf diese Weise Zugang bekommen zu der Welt des Schrottplatzbesitzers Kitten (Sean Gilder), in der nicht nur Geld, sondern auch Anerkennung zu verdienen ist. Immer an Arbors Seite ist Swifty. Im Vergleich zu dessen Zuhause scheint es Arbor gut zu gehen: Sein cholerischer Vater wird Price Drop (Steve Evets) genannt, ist ständig pleite und schreit seine Kinder an, seine Mutter (Siobhan Finneran, bekannt als O’Brien aus Downton Abbey) ist unsicher und ständig droht der Familie der Rausschmiss. Doch Swifty ist ein guter Junge mit einem weichen Herz, der versucht, das Richtige zu tun. Als er in der Schule wieder einmal gehänselt wird, verteidigt ihn Arbor wie immer und wird deshalb von der Schule geschmissen. Daraufhin widmet sich Arbor – sein Name ist eine Referenz an Barnards ersten Film, den experimentellen Dokumentarfilm Arbor über die Dichterin Andrea Dunbar und deren bekanntestes Theaterstück – ganz dem Sammeln von Schrott und versucht Swifty zu überzeugen, es ihm gleich zu tun.

The Selfish Giant erzählt also die Geschichte zweier Jungen aus Bradford im Norden Englands. Ihr Leben ist von Armut und Perspektivlosigkeit geprägt, für Herzlichkeit bleibt kaum Raum. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Freundschaft zwischen Arbor und Swifty, die in jeder Minute des Films glaubhaft ist, und der einzige Ort der Wärme ist, den sie in dieser rauen Welt kennen. Auf den ersten Blick gegensätzlich – Arbor ist aufbrausend, zäh und ständig gewillt, sich mit den Fäusten durchzusetzen; Swifty ist weicher, einfühlsamer und klüger – ergänzen sie sich. Jedoch wird diese Freundschaft von Kitten bedroht. Als er erkennt, dass Swifty aufgrund seines Einfühlungsvermögens und seiner ‚tinker‘-Verwandschaft ein gutes Händchen mit Pferden hat, will er, dass er für ihn Straßenrennen fährt. Fortan bekommt nicht Arbor Kittens Anerkennung für seinen Mut beim Kupfersammeln, sondern muss eifersüchtig mitansehen, wie Kitten Swifty Aufmerksamkeit schenkt.

Diese Welt fassen Clio Barnard und ihr Kameramann Mike Eley (Marley) in ausgebleichte, grau-blaue Bilder, in die beständig poetische Aufnahmen der brach liegenden industrialisierten Landschaft montiert sind. Es sind Pferde und Schafe auf Feldern zu sehen, von denen der Nebel aufsteigt, aber ebenso die bedrohlich wirkenden Türme von Elektrizitätswerken und ein packendes Pferderennen auf der Straße. Hinzu kommen sorgfältig ausgesuchte wiederkehrende Motive, das Pferd des Schrottplatzhändlers und die Hände von Arbor und Swifty zum Beispiel. Realismus und Poesie werden so in der Bildsprache verbunden, der post-industrielle Verfall wird zu einer bedrückenden, aber ebenso berührenden Kulisse. Es sind diese Bilder, die zusammen mit den fantastischen Laiendarstellern Chapman und Thomas den Film zu einem Ereignis machen.

Von Anfang an ist die Nähe von The Selfish Giant zum sozialrealistischen britischen Kino eines Ken Loach und Alan Clarke zu spüren, zugleich aber haftet The Selfish Giant auch die märchenhafte Geschichte einer wunderbaren Freundschaft an, die lange den Widrigkeiten trotzt – und von zwei Jungs, die sich nicht in Drogen flüchten, sondern stattdessen auf die Suche nach Kupferkabeln gehen. Das ist eine gefährliche und harte Arbeit, in der aber insbesondere Arbor eine Beschäftigung findet, und durch die Clio Barnard den Mythos des harten Arbeiters im Nordwesten Englands heraufbeschwört.

The Selfish Giant basiert lose auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Oscar Wilde, in der er von einem eigennützigen Riesen erzählt, der seinen Garten mit einer Mauer umgibt, damit die Kinder dort nicht spielen. Jedoch sorgt diese Mauer dafür, dass in dem Garten nur noch Winter herrscht. Eines Tages schlüpfen die Kinder durch ein Loch im Zaun wieder in den Garten zurück und klettern auf die Bäume. Nur ein kleiner Junge kommt nicht hinauf, er ist zu klein. Da hilft ihm der Riese und erkennt, wie selbstsüchtig er war. Fortan dürfen alle Kinder in seinem Garten spielen, in dem auch kein Winter mehr ist. In Clio Barnards Film – so liegt es nahe – könnte der Schrottplatzbesitzer Kitten der selbstsüchtige Riese sein. Perfekt gespielt von Gilder verbindet er Schroffheit mit Herz – und ihm gehört eine der bemerkenswertesten Szenen des Films, in dem er schlichtweg zugibt, dass er etwas falsch gemacht hat. Aber sein Schrottplatz ist nicht der richtige Ort für Kinder. Auch die Türme der Stromleitungen könnten der Riese sein, der die Kinder beständig von ihrem Ziel – dem Kupfer – fernhält. Jedoch erscheint in diesem Film die ganze Welt ein selbstsüchtiger Riese zu sein. Hier gibt es keinen Garten mehr, keinen Ort zum Spielen, sondern Kinder müssen sich um Geld sorgen, ihr Leben riskieren und sind dem Eigennutz der Erwachsenen ausgeliefert. In dieser Welt haben Kinder keine Perspektiven, noch nicht einmal eine Schulbildung scheint für Arbor möglich, sondern seine einzige Zukunft liegt im Sammeln von Schrott. Hier gibt es keinen Riesen, der Arbor oder Swifty hilft, über sich hinauszuwachsen, sondern ihre Freundschaft scheint ihre einzige Chance zu sein. Deshalb ist die Welt in The Selfish Giant ein wahrlich kalter Ort, den Clio Barnard in ihrem technisch und schauspielerisch brillanten Film in eindringliche Bilder fasst. Und wer die Gelegenheit hat, diesen wunderbaren Film zu sehen, sollte sie daher unbedingt nutzen.

The Selfish Giant

Am Anfang von „The Selfish Giant“ liegt Arbor (Conner Chapman) unter einem Bett und wütet herum. Immer wieder schlägt er gegen den Lattenrost, wehrt sich gegen einen Angreifer, flucht und boxt. Dann kommt eine zweite Stimme hinzu, sein bester Freund Swifty (Shan Thomas) weckt und beruhigt ihn. Ihre Hände umschließen sich und werden in einer Großaufnahme eingefasst. Schon hier zeigt sich ihre enge Verbindung, ihre tiefe Freundschaft, die das Herz von Clio Barnards großartigem Film „The Selfish Giant“ ausmacht.
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