The Place Beyond the Pines (2012)

Eine Filmkritik von Tomasz Kurianowicz

Zwischen den Pinien dem Geheimnis so nah

Mythisch, fesselnd, fast zeitlos könnte man diese Geschichte nennen, die Derek Cianfrance in seinem fantastischen Film The Place Beyond the Pines erzählt. Es ist eine Vater-Sohn-Geschichte, eine Parabel über Schuld und Sühne – über Moral, das Gute, das Böse, die Welt –, in der Ryan Gosling, ähnlich wie in Drive, einen Stuntman spielt. Diesmal ist allerdings nicht ein Auto, sondern ein Motorrad sein Gefährt. Zentrales Element in dieser packend-psychologischen Tiefenschau ist wieder die Kulisse Amerikas: diesmal nicht die krebsgeschwürartig sich windende Mega-Stadt Los Angeles, sondern die melancholischen Weiten des mythisch anmutenden, dicht bewaldeten Bundesstaates New York.

Gleich mal vorweg: Dieser Film ist so stark und eindrucksvoll, so unkonventionell und berührend, weil er eine Geschichte erzählt, die sich überhaupt nicht zu Ende, und schon gar nicht zu Tode erzählen lässt; die immer wieder von vorne beginnt, so lange man sich auf das Wagnis einlässt, eine Familie zu gründen und für diesen Wahnsinn dann auch noch verantwortlich sein zu wollen. Dieser Film handelt genau von diesem Wahnsinn, dieser Anmaßung, dem Kampf, es richtig zu machen, es allen recht zu machen – sich selbst; der Frau, die man liebt; dem Kind, das man aufwachsen sieht, wohl wissend, dass der Wunsch, ein perfekter Vater zu sein, schon mal der ganz falsche Ansatz ist. Wer wird schon seiner Rolle als Sohn, geschweige denn als Vater je gerecht?

Nun. Für Luke (Ryan Gosling) stellt sich diese Frage in besonderer Art. Er schlägt sich als Motorrad fahrender Zirkusartist durch, hat kein Privatleben, außer einer arg unverbindlichen Beziehung zu seiner Geliebten Romina (Eva Mendes), die er vielleicht ein paar Mal im Jahr aus Verlegenheit trifft. Man weiß schon, wozu. Sein Leben wird plötzlich auf den Kopf gestellt, als Romina ihm erzählt, dass er vor ein paar Monaten Vater geworden ist. Das Baby ist dieser unerwartete Einschnitt im Leben von Luke. Jetzt heißt es: Vater sein, Sorge tragen, nicht nur sich selbst über Wasser halten, sondern auch noch ein Kind. Doch das ist nicht so einfach, denn das Baby hat bereits einen anderen Versorger, den neuen Liebhaber von Romina, den Luke sogleich, als er heimlich ein neu gekauftes Bett in das Kinderzimmer seines neuen Sohnes schmuggelt, mit einem Schraubenschlüssel zu erschlagen versucht.

In der Tat: Luke will mit aller Gewalt der Vaterrolle gerecht werden. Das ist nicht besonders leicht, denn wie kann schon ein Zirkusartist ein Kind, oder gar eine Familie versorgen? Anstatt seine Kreise in der Manege zu ziehen, zieht Luke die Reißleine und setzt seine Motorradkünste woanders ein – nämlich als Gangster, indem er Banken überfällt und mit seinem Motorrad blitzschnell hinter der Plane eines Trucks verschwindet. Die gerissen erbeuteten Dollarnoten gibt er seinem Sohn und seiner Geliebten – aus Schuldgefühl, aber auch in der Absicht, ein verantwortlicher Vater zu sein.

ACHTUNG! Hier folgt ein SPOILER!

Eines Tages geht jedoch ein Banküberfall schief und Luke wird nach einer dramatischen Verfolgungsjagd vom Cop Avery (Bradley Cooper) erschossen – eher zufällig als gewollt. Hier beginnt der Film, eine vollkommen neue Wendung zu nehmen.

Luke ist tot. Der Fokus der Geschichte verlagert sich auf den Polizisten Avery, der ebenfalls einen kleinen Sohn hat. Als er erfährt, dass Luke ein Kind hatte, wird er von heftigen Schuldgefühlen geplagt. Er kann seinem eigenen Sohn nicht mehr in die Augen schauen, will nicht mehr Vater sein, muss jetzt immer wieder an das Kind denken, das er durch sein fragwürdiges Heldentum zum Waisen gemacht hat. Diese große Schuld will er loswerden, indem er besonders gewissenhaft, ja geradezu übereifrig agiert. In allen Lebensbereichen und ganz besonders im Job. Deswegen zeigt er in seiner Polizeistation einige seiner besten Kollegen wegen Korruption an und bringt sie hinter Gitter. Doch ist dies eine Wiedergutmachung, die die moralische Schieflage wieder einzurenken vermag?

Nicht ganz! 15 Jahre später zeigt sich, dass die Sühnetat an den Schuldgefühlen nichts geändert hat. Hier beginnt der Film erneut, sich in seinem Konfliktfeld zu verlagern. Jetzt geht es vor allem um die beiden Söhne, den Waisen von Luke, Alex, und den Sohn des Cops, AJ, die zufällig in ihrer High School aufeinandertreffen, wie von einem mysteriösen Schicksalsstrom getrieben. Dabei ist Avery kein Cop mehr, sondern Politiker. Sein wohlhabendes Leben und sein Erfolg können jedoch sein Versagen als Vater nicht überschatten – die Gewissensbisse lasten zu schwer; so lässt es sich anhand der Verrohung und des Drogenkonsums seines Sohnes mutmaßen. Lukes Sohn ist ebenso gestört – immerhin ist er als Waise aufgewachsen, vaterlos, ohne Disziplin, ohne jemanden, zu dem er hätte aufschauen können. Beim ersten Treffen wissen beide Jugendliche noch nichts von der dunklen Vergangenheit, die sie miteinander verbindet. Sie fühlen sich nah, aber aus anderen Gründen: beide sind rastlose, orientierungslose Gestalten. Hier lässt Deren Cianfrance alle Knoten platzen. Jetzt muss sich jeder seinen Verfehlungen stellen: Avery als Vater, AJ und Alex als Söhne.

Der Film dauert etwa 140 Minuten und ist keine Minute zu lang. Jeder Moment ist packend, jede Einstellung zauberhaft gewählt. Man glaubt sich fast in einer griechischen Tragödie, in der die Natur, die Pinien, die den Raum zwischen zivilisatorischer und mythischer Sphäre unterteilen, so etwas wie ein Geheimnishüter sind. Die Pinien wissen mehr als die Figuren.

Das Raffinierte an dieser Geschichte ist ihre paradoxe Struktur: Luke will ein guter Vater sein, wird dadurch kriminell. Avery begeht eine Heldentat als Polizist, die ihn als Menschen zu einer Schandtat verleitet, für die er wiederum mit seinem guten Gewissen bezahlt. Das heißt also, dass ihn die Rolle des guten Staatsdieners zum schlechten Vater macht.

All diese dialektischen Verwicklungen sind unglaublich tief und anspielungsreich erzählt und dadurch ungeheuer klug. Gefesselt ist man von dieser Erzählstruktur – und besonders von der atemberaubenden Landschaft Upstate New Yorks –, auch wenn sie zum Ende hin etwas konstruiert und bemüht wirkt. Trotzdem lässt einen diese Geschichte nicht mehr los, die stillen Farben, die melancholische Musik (großartig: Arvo Pärts Score), alles ist perfekt zugeschnitten in diesem tieftraurigen, mythischen und melancholischen Film. Er ist so wahr, weil er die Paradoxien des Lebens in einer einfachen Botschaft kondensiert: dass man scheitert, gerade dann, wenn man verbissen versucht, es richtig zu machen. Wo könnte dies noch zutreffender sein als in der Beziehung zwischen Vater und Sohn?
 

The Place Beyond the Pines (2012)

Mythisch, fesselnd, fast zeitlos könnte man diese Geschichte nennen, die Derek Cianfrance in seinem fantastischen Film „The Place Beyond the Pines“ erzählt. Es ist eine Vater-Sohn-Geschichte, eine Parabel über Schuld und Sühne – über Moral, das Gute, das Böse, die Welt –, in der Ryan Gosling, ähnlich wie in „Drive“, einen Stuntman spielt.

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Meinungen

Alf · 28.06.2013

Ein intelligenter und melancholischer Film mit tollen Darstellern. Die Musik ist Klasse. Alles in allem, absolut sehenswert!

speuler · 25.06.2013

Speuler? Seit wann geht es hier um Auto-Tuning???

DK · 13.06.2013

'Ich habe den film noch nicht gesehen, werde es aber unbedingt tun. 140 Minuten gute Kamera und die Musik von Arvo Pärtt sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen.
Aber: der Rezensent ist vermutlich noch sehr jung (ich selbst 70), deshalb ist ihm einiges nachzusehen. Dennoch sollte er seine Hymne über diesen film überdenken. Was den sozialen Zusammenhang betrifft und den allzu grßzügigen Gebrauch des Begriffs 'Mythos', der sich allgemein gedankenlos auszubreiten scheint. Dennoch danke für den Hinweis auf diesen film.'

Dave · 16.05.2013

Danke, sehr viel besser :-) Und sorry für meine Wortwahl.

Dave · 16.05.2013

Spoiler Alert! – Für alle, die den Film noch nicht gesehen haben, ist das da oben totale Grütze, sorry.

Der gespoilerte · 16.05.2013

Bitte, bitte, bitte keine Spoiler mehr im ersten Absatz. Ich bin sehr gespannt auf den Film und dann muss ich sowas lesen :-(.