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Nora Fingscheidt zeigt Saoirse Ronan in „The Outrun“ auf dem mühsamen Weg zur Genesung – in einer schauspielerischen Glanzleistung.

The Outrun (2024)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Eine Frau unter Einfluss

Ihr Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ (2019) über eine Neunjährige, die durch sämtliche Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe zu fallen droht, sorgte zu Recht für Furore: Der 1983 in Braunschweig geborenen Drehbuchautorin und Regisseurin Nora Fingscheidt gelang es darin, ihre Coming-of-(R)Age-Story ohne jegliche Sentimentalität und abseits aller sozialdramatischen Klischees zu schildern. Auf die Netflix-Produktion „The Unforgivable“ (2021) mit Sandra Bullock folgt nun mit „The Outrun“ ihr nächstes internationales Werk – basierend auf dem autobiografischen Bestseller Nachtlichter (2016) von Amy Liptrot.

Schon nach den ersten Filmminuten ist klar: Auch hier erzählt Fingscheidt die Geschichte ihrer Heldin voller Wucht und Verve. Wie in der literarischen Vorlage verschmelzen einfühlsame Beobachtungen der rauen Landschaft mit den persönlichen Reflexionen der Protagonistin. Rona (Saoirse Ronan) wuchs auf den entlegenen, zu Schottland gehörenden Orkneyinseln auf. Zu Beginn sehen wir ein kleines Mädchen, das mit Gummistiefeln am matschigen Strand entlangläuft. Alsbald folgen Unterwasseraufnahmen und ein surreal anmutender Tanz auf dem Meeresgrund, während Rona via Voice-over über Seehunde spricht.

Dann geschieht ein harter Cut – mitten hinein in die bittere Wirklichkeit: „Die Nacht ist vorbei!“ Der Barkeeper fordert die spürbar betrunkene Rona auf, den Laden zu verlassen. Die junge Frau zeigt sich allerdings nicht bereit, zu gehen. Sie legt sich mit dem Türsteher an und wird hinausbefördert. Am nächsten Tag sitzt sie mit einem Bluterguss ums Auge einer Dame gegenüber, die ihr Fragen stellt. Wir erfahren, dass Rona momentan arbeitslos ist; sie hat einen Masterstudiengang in Biologie absolviert. Als sie mit der Frage konfrontiert wird, ob es in ihrer Familie psychische Erkrankungen gäbe, blickt sie schweigend ins Nichts.

Es dauert eine Weile, bis wir uns in Ronas Leben orientieren können; die Zeitebenen werden wild durcheinandergewirbelt. Als einfaches und doch sehr cleveres Hilfsmittel dient Ronas Haarfarbe: Mal ist ihr eigentlich blonder Schopf gänzlich blau gefärbt, mal ist das Blau bis auf die Spitzen herausgewachsen; später kommen noch Rottöne hinzu. Allmählich begreifen wir, dass Rona in London ein paar Jahre der Ausschweifungen erlebt hat. Sie führte eine Beziehung mit Daynin (Paapa Essiedu), ging oft mit ihrer Clique feiern und trinken, unternahm erste berufliche Schritte – bis ihre Alkoholsucht alles zerstörte. Nach einem Entzugsprogramm mit Gruppentherapie begibt sich Rona nach einer Dekade wieder in ihre Heimat. Ihre Eltern leben inzwischen getrennt. Ihre Mutter Annie (Saskia Reeves) ist streng religiös; ihr Vater Andrew (Stephen Dillane) hat eine bipolare Störung und züchtet Schafe auf einer Farm.

Die Sujets, die Liptrots Memoiren behandeln, hätten leicht zu einem typischen Thesenfilm über den Umgang mit psychisch kranken Menschen und über den Kampf gegen Alkoholismus führen können. Aber wie schon bei Systemsprenger liefert Fingscheidt kein Lehrstück, sondern ganz und gar mitreißendes Kino, mit Figuren, die lebendig wirken. Weder Ronas Vater noch sie selbst werden nur durch ihre jeweilige Erkrankung definiert. Rona ist eine vielschichtige, im besten Sinne komplizierte Persönlichkeit, bei der wir tatsächlich das Gefühl haben, sie im Laufe der rund zweistündigen Laufzeit kennenzulernen. Sie liebt elektronische Musik, die zu ihrem individuellen Soundtrack beim Füttern der Schafe oder beim Spaziergang an der Küste wird. Sie ist ein Natur-Nerd, der mit Begeisterung über die Historie der Orkneyinseln, über Algenzucht und Wachtelkönige reden kann. Die Inszenierung greift diese Eigenschaften auf – etwa durch die Integration von Archivaufnahmen in Schwarz-Weiß.

Die versiert geführte Kamera von Yunus Roy Imer fängt jede Nuance im hervorragenden Spiel von Saoirse Ronan ein, deren intensive Darstellung Erinnerungen an Gena Rowlands in den Arbeiten von John Cassavetes weckt. The Outrun ist mehr als eine Suchtstudie, mehr als ein Familiendrama. Es ist (unter anderem) ein Film über einen der schwierigsten Prozesse des Lebens: den Versuch, sich selbst zu verzeihen. Das Scheitern in der Vergangenheit zu akzeptieren – und dem, was kommen mag, eine Chance zu geben. Am Ende erwartet uns – erneut im perfekten Einklang mit der Natur – ein Finale furioso, mit einer kleinen, genialen Schlusspointe.

Gesehen auf der Berlinale 2024.

The Outrun (2024)

Nach mehr als einem Jahrzehnt kehrt Rona (Saoirse Ronan) in ihre Heimat auf den entlegenen Orkney-Inseln zurück. Während sie die einzigartige Landschaft, in der sie aufgewachsen ist, wiederentdeckt, vermischen sich ihre Kindheitserinnerungen mit der letzten, von Sucht geprägten Zeit. Ihr damaliger Aufbruch in die Stadt und die folgenden ausschweifenden Jahre in London endeten in einem schmerzhaften Absturz. Doch nach und nach wird die Begegnung mit der rauen Natur der Inseln zu einer Chance auf ein neues Leben. (Quelle: Studiocanal)

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