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In einer Hochhaussiedlung irgendwo in Norwegen stehen sich Kinder mit übernatürlichen Fähigkeiten gegenüber. Eskil Vogts Mystery-Thriller „The Innocents“ blickt in tiefe Abgründe und fasziniert, weil er betont langsam und mit denkbar einfachen Mitteln auf die Eskalation zusteuert.

The Innocents (2021)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Kinder, die auf Kinder starren

Was wäre, wenn Superman seine Kräfte nicht in den Dienst der guten Sache stellen und stattdessen Amok laufen würde? Diese Frage steht hinter dem Schocker „Brightburn – Son of Darkness“, der noch dazu einen Jungen zum bösen Pendant des vom Planeten Krypton stammenden Muskelprotzes macht. Erinnerungen an den von James Gunn produzierten und David Yarovesky inszenierten Film weckt der norwegische Mystery-Thriller „The Innocents“, mit dem der vorwiegend als Drehbuchautor tätige Eskil Vogt seine zweite abendfüllende Regiearbeit vorlegt. Wo der US-amerikanische Horrorbeitrag auf schnörkellose Genreunterhaltung setzt, vertraut das skandinavische Schauerstück allerdings auf eine leise köchelnde Spannung und verhältnismäßig kleine Gesten. Gesten, die dennoch für heftiges Schaudern sorgen. Um Verunsicherung zu stiften, braucht es keine wilden Splatter-Einlagen, kein knalliges Brimborium – das zeigt „The Innocents“ in eindrücklicher Manier.

Vogt, der die zerstörerische Kraft übermenschlicher Fähigkeiten schon in seinem mit Joachim Trier verfassten Skript zu Thelma erforschte, beweist, dass der größte Schrecken aus Alltäglichem erwächst, das plötzlich seltsam verfremdet daherkommt. Beunruhigender als hässliche, wilde Monster sind Figuren, die auf den ersten Blick völlig normal erscheinen, deren Verhalten aber allen gängigen Annahmen widerspricht. Kinder können grausam sein, heißt es. Und doch verbinden wir mit den kleinen, schutzbedürftigen Menschen vor allem Vorstellungen von Reinheit und Unschuld. Darauf spielt der natürlich auf das Gegenteil verweisende Filmtitel an, der im Übrigen wie eine Verbeugung vor dem 1961 veröffentlichten Horrorklassiker Schloss des Schreckens wirkt. Jener Adaption einer Henry-James-Erzählung, die im Original den Namen The Innocents trägt und von zwei möglicherweise mit dem Übersinnlichen in Verbindung stehenden Kindern handelt.

Vogts Gruselmär beginnt mit dem Blick auf die schlafende Ida (Rakel Lenora Fløttum). Ein niedliches, blondes Mädchen, das vermeintlich kein Wässerchen trüben kann. Augenblicke später belehrt uns der Film allerdings eines Besseren. Ohne Wimpernzucken kneift die Neunjährige ihrer autistischen Schwester Anna (Alva Brynsmo Ramstad) ins Bein, die sich weder wehren noch richtig mitteilen kann. Idas Boshaftigkeit schockiert, auch wenn wir kurz darauf eine Ahnung davon bekommen, warum sie sich so garstig aufführt. Der Umzug ihrer Familie in eine nicht näher verortete Hochhaussiedlung bedeutet Veränderung. Und was noch schlimmer ist aus Idas Sicht: Ihre Mutter (Ellen Dorrit Petersen) und ihr Vater (Morten Svartveit) sind vor allem darauf bedacht, Anna den Wechsel so leicht wie möglich zu machen. Mal wieder kreist die Aufmerksamkeit der Erwachsenen um ihre ältere, auf Hilfe angewiesene Schwester.

Beim Erforschen der neuen Umgebung trifft Ida auf den etwa gleichaltrigen Ben (Sam Ashraf), der ihr ein unglaubliches Geheimnis anvertraut: Allein mit der Kraft seiner Gedanken kann er Gegenstände durch die Luft wirbeln. Anna lernt derweil die telepathisch veranlagte Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim) kennen, baut schnell eine innige Beziehung zu dem feinfühligen Mädchen auf und findet dank diesem, zu Idas Erstaunen, langsam ihre Sprache wieder. Das Spiel mit den übernatürlichen Fähigkeiten mag aufregend sein – verbunden mit den besonderen Gaben ist aber eine ebenso verlockende wie gefährliche Macht.

Der Gedanke, Kinder als Quellen des Unheils aufzubauen, hat im Horrorkino – siehe Schloss des Schreckens oder Das Omen – seinen festen Platz. Vogt bedient sich hier also eines vertrauten Motivs und verbindet es mit der klassischen Ausgangssituation eines Umzugs, der grauenvolle Ereignisse nach sich zieht. Zu den Klischees des Genres gehört auch die besondere Empfänglichkeit einer Person mit Behinderung für übernatürliche Schwingungen und Kräfte. Aus den Standardbausteinen setzt der Regisseur und Drehbuchautor dann aber einen weitgehend unberechenbaren, eigenwilligen Film mit ein paar wirklich heftigen, nie selbstzweckhaften Bildern zusammen. The Innocents ist nichts für Zartbesaitete, fordert das Publikum schon deshalb heraus, weil uns keine übliche Identifikationsfigur angeboten wird. Vor allem mit Idas Augen wandern wir durch den Wohnkomplex. Ihre Handlungen in der ersten halben Stunde lassen sie jedoch in einem äußerst schlechten Licht dastehen.

Andererseits begeht Vogt nicht den Fehler, alle Charaktere, die Böses im Schilde führen, zu verteufeln. Dass sich hinter den erschütternden Machtspielen und Gewaltakten auch schwierige familiäre Verhältnisse, tiefe Verletzungen und Wut über Vernachlässigung verbergen, deutet das auf explizite Erklärungen verzichtende Drehbuch mehrfach an. Besonders ein Szene, in der Tränen der Verzweiflung, vielleicht der Reue aus einer Figur herausbrechen, geht tief unter die Haut. Eine Eskalation – daran lässt das schmerzhafte erste Drittel keinen Zweifel – ist dennoch unvermeidlich. Auf dem Weg dorthin verlangt The Innocents uns allerdings einiges an Geduld ab. Nichts wird überstürzt. Lange brodelt die Spannung im Untergrund, wobei der Regisseur mit einfachen Mitteln ein konstantes Klima der Bedrohung erzeugt. Eine geisterhaft schwebende Kamera, intensive Blicke aus Kinderaugen und sparsam eingesetzte visuelle Effekte reichen aus, um jederzeit einen Ausbruch für möglich zu halten.

Auch wenn Vogts düsterer Superkräfte-Thriller nicht ganz die Wucht und die thematische Komplexität seines mitgeschriebenen Mystery-Beitrags Thelma erreicht, der die Ablösung einer jungen Frau von ihrem strengreligiösen Elternhaus beschreibt, ist The Innocents bis zum furiosen, gleichzeitig passend-unspektakulären Showdown ein echter Genregewinn. Großen Anteil daran haben – das kam bislang noch nicht zur Sprache – die durchweg starken Kinderschauspieler*innen. Ohne ihre präzisen, Unbehagen hervorrufenden Darbietungen würde der Film nicht funktionieren.

The Innocents (2021)

Die 9-jährige Ida zieht mit ihrer Familie in einen Hochhauskomplex am Waldrand irgendwo in Norwegen. Mit ihrer älteren, autistischen Schwester Anna ist der Alltag nicht einfach, da diese in ihrer eigenen Welt gefangen scheint. Auf der Suche nach neuen Spielgefährten trifft Ida auf den Nachbarsjungen Ben, der ihr ein Geheimnis zeigt: Er kann mit seinen Gedanken Objekte bewegen. Das Mädchen Aisha hat wiederum die Gabe, die Gedanken anderer zu hören — sogar jene von Anna. Als die vier Kinder mehr zusammen unternehmen, beginnen Bens Kräfte jedoch ausser Kontrolle zu geraten. 

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