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Cédric Kahn inszeniert einen Prozess gegen den linken Schriftsteller und Aktivisten Pierre Goldman als klassisches Justizdrama. Interessant ist jedoch, wie im Gerichtssaal die französische Gesellschaft im Kleinen abgebildet wird – und wie theatralisch der Angeklagte sich über alle Grenzen und Regeln hinwegsetzt, die ihm im Weg stehen.

The Goldman Case (2023)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Die Arroganz der Unschuld

„The Goldman Case“ von Cédric Kahn ist ein Film über die Sehnsucht, die Welt in Wachs zu verwandeln. Sie soll dem eigenen Willen nach formbar sein und allein durch die Gerechtigkeit, die man im Herzen trägt, eine andere werden.

Das Justizdrama erzählt von dem linken französischen Aktivisten und Schriftsteller Pierre Goldman, verkörpert von Arieh Worthalter. Ein Radikaler, der sich selbst nie radikal genug war. Seine Eltern kämpften für die Résistance, Pierre wird zu spät geboren für den großen, totalen Feind. Als Chef des Ordnungsdienstes der kommunistischen Studentenunion findet er Gegner, als Guerillero in Venezuela auch, doch das genügt ihm nicht. Er kehrt nach Frankreich zurück, begeht Raubüberfälle und landet schließlich vor Gericht.

Kahn inszeniert mit seinem Film Goldmans zweiten Prozess Ende 1975, nachdem er in erster Instanz zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Er wird einer ganzen Reihe von Verbrechen beschuldigt, von denen er die meisten offen zugibt. Diebstähle, Dokumentenfälschung, was ist schon dabei? Nur die Schuld an zwei Todesfällen bei einem Raubüberfall auf eine Apotheke weist er von sich.

Gegen das erste Urteil schrieb Goldman an, 1975 erschien auch sein Buch Dunkle Erinnerungen eines in Frankreich geborenen polnischen Juden. Alle am Prozess beteiligten haben es gelesen, zumindest wird es immerzu zitiert, paraphrasiert und ihm zum Vorwurf gemacht. The Goldman Case verlässt den Gerichtssaal so gut wie nie. Eine kurze Einstiegssequenz, in der Goldman seinen Verteidiger Georges Kiejman (Arthur Harari) mit einem Brief düpiert, und einige Unterbrechungen zur weiteren Beratung bilden die einzigen Ausnahmen. Von dem Tathergang ist keine Sekunde zu sehen, und im Kino ist Wahrheit oft unmittelbar mit Sichtbarkeit verbunden.

Der Prozess entpuppt sich im Film bald als Geschichte im Doppelsinn – als historischer Kulminationspunkt, von dem die Studentenbewegung neu beurteilt wird, einerseits, und als quasifiktionale, in dem hermetischen Raum des Gerichtssaals wie aus dem Nichts geschaffene Erzählung andererseits. Wichtiger als die tatsächlichen Ereignisse scheint das individuelle Charisma der Verhörten. Ihre Darstellerleistung in dem großen Drama, das Wahrheit und Performance gleichsetzt.

Wenn französische Gerichtsverfahren so etwas wie Regeln unterliegen, bekommt man nicht viel davon mit. Alle Beteiligten begreifen den Gerichtssaal als Theaterbühne. Fast willkürlich monologisieren sie vor sich hin, brüllen Kontrahenten nieder und steigern sich in kuriose Showeinlagen hinein. Absurde Denkfiguren werden vorgeführt wie Kunststücke. Man will nicht einfach Schuld oder Unschuld, sondern auch sich selbst beweisen.

Es liegt eine Erkenntnis über Justizdramen in dieser Beschreibung: Sie verwandelt epistemologische Fragen in Fragen der Performanz. In einer Zeit von Autoren wie Aaron Sorkin gewinnt der, dessen Schicksal sich in die originellste Ansprache übertragen lässt. Eloquenz ist Recht.

So steht dann die bekannte Frage im Raum, ob es überhaupt noch eine allgemeingültige Wahrheit gibt, oder nicht nur noch Standpunkte existieren. Wird von Richtern und Anwälten die Wahrheit gefunden oder festgelegt? Passend dazu wird auch das Spannungsfeld zwischen Universalismus und identitätspolitischen Anliegen eröffnet. Denn die alte Garde rund um Hauptkläger Henri-René Garaud (Nicolas Briancon) erzählt von einer Gesellschaft, in der alle vor dem Gesetz gleich sind, während die Angehörigen von ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten zornig von den Seitenlinien protestieren.

Sie und ihr Zorn werden ins Bild gerückt. Die Kamera blickt stets zwischen Menschen hindurch auf andere Menschen. Es entstehen Interessengruppen, manchmal lässt sich eine Linie zwischen den Fraktionen durchs Bild ziehen. Wir gegen Sie. Wie weit man sich auch auseinander wähnt – noch ist man Teil derselben Ordnung. Kaum einer ist in seiner Einstellung allein, aus Zeugen, Polizisten und Richtern entsteht eine Gesellschaft im Kleinen. Man teilt dieselben Bilder, auch wenn der andere oft nur noch ein unscharfer Umriss im Bildvorder- oder -hintergrund ist. Es entsteht eine Klaustrophobie, die man wohl „Öffentlichkeit“ nennt. Demokratische Beklemmung.

Doch einer will den Rahmen sprengen, die Enge beenden. Arieh Worthalter spielt Pierre Goldman mit einer theatralischen Aura. Wenn er stillsteht, dann steht er zu still, wird statuesk, inszeniert sich als Fels in der Brandung. Wenn er sich bewegt, dann hebt er sich in der Regel in große Triumphposen. Er steht über den Dingen, über der Justiz, über dem bürgerlichen Frankreich. Einmal erklärt er sogar, er wäre „unschuldig, weil er unschuldig ist“, eine ontologische Unschuld, die keinerlei Rechtfertigung mehr bedarf. Es geht ihm weniger darum, den Prozess zu gewinnen, vielmehr will er zeigen, dass der Prozess absurd ist. Zwischen Selbstbewusstsein und Arroganz passt hier kein Blatt.

Die so entstehende Dynamik ist interessanter als die doch eher schlichte Dramaturgie des Films. Das Publikum im Kino wird wohl, genau wie das Publikum im Gerichtssaal, tendenziell auf Goldmans Seite sein. Wir fiebern im Kino nicht unbedingt mit den Guten mit, sondern mindestens genau so oft mit den Interessanten. Mit denen, die sich anders bewegen, die anders aussehen und herausstechen. Goldman ist einer davon. Aber angesichts dieser großen Show scheinen auch die Vorwürfe seiner Feinde nicht absurd.

Man weiß nicht, ob er nach Verbündeten und Wegbegleitern sucht oder doch nach Fans und Verehrern. Ist Differenz genug? War seine Revolution vielleicht doch nur narzisstisches Querulantentum, der Angriff auf die Normalität auch nur ein marktförmiger Hyperindividualismus? So lautet ein Vorwurf von Polizisten und Klägern. Man jubelt gerne an Goldmans Seite, spottet gerne mit ihm über seine oft so leicht zu entzaubernden Gegner, aber wo er selbstzufrieden im Rampenlicht badet, bleibt zumindest ein Restzweifel. Was tun mit einem, der so hell und heiß brennt, in einer Welt aus Wachs?
 

 

The Goldman Case (2023)

Pierre Goldman wurde zu einer lebenslangen Haft verurteilt. Während der ehemalige Guerilla-Kämpfer diverse Raubüberfälle einräumt, streitet er den Mord an zwei Frauen ab. Durch ein Buch, in dem er den Behörden Polizeistaatsmethoden und Rassismus vorwirft, wird er zu einer Ikone der Linken. Zahlreiche Anhänger·innen begleiten das Berufungsverfahren lautstark. Nicht die einzige Schwierigkeit, mit der Goldmans Anwalt Georges Kiejman zu kämpfen hat. Denn sein ständig provozierender Mandant riskiert die Todesstrafe. (Quelle: Filmfest Hamburg)

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