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In seiner neuen dokumentarischen Arbeit liefert Mark Cousins keine Götterverehrung, sondern befasst sich mit dem Menschen Orson Welles außerhalb des Filmgottes. Dennoch gibt es ein Problem mit Cousins Herangehensweise.

The Eyes of Orson Welles (2018)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Liebesbrief mit Hindernissen

Man darf getrost sagen, es ist immer eine Freude, einen Film von Mark Cousins zu sehen. Allein seine Liebe zum Kino und seine Begeisterung sind so ansteckend, dass man sich dem Sog nicht entziehen kann. Schon bei seiner 12-Stunden-Dokumentation „The Story of Film“ war kein einziges Mal Langeweile zu verspüren. Nun widmet sich der Filmkritiker einem seiner Lieblingsthemen: dem großen Orson Welles.

Über Orson Welles ist schon viel gesagt, geschrieben und verfilmt worden, doch Cousins hat kein Interesse, mit The Eyes of Orson Welles noch einen weiteren Aufguss der Götterverehrung zu produzieren. Vielmehr kümmert er sich hier um den Menschen außerhalb des Filmgottes. Bei einem Abendessen hatte Cousins Welles‘ Tochter Beatrice kennengelernt, die ihm von einer Box erzählte. In dieser Box: Orsons Welles‘ Zeichnungen, denn er war zu allererst einmal ein Maler. Akribisch zeichnete er Menschen, Orte und Ideen, seit er 12 Jahre alt war. Viele Zeichnungen hat er selbst zerstört, doch so manche haben überlebt und hier nimmt Cousins seinen Anfang. Mit der Kamera fährt er in die USA, um die Box abzuholen. Zuhause in Schottland öffnet er sie und findet nicht nur Zeichnungen, sondern Orson selbst.

„What’s in the box, Orson?“ Mit dieser metaphorischen Frage beginnt Cousins seine Suche nach dem Menschen. Sie begleitet den gesamten Film, in dem Cousins ausgehend von den Skizzen ein interdisziplinäres, gut recherchiertes und eher philosophisch als psychologisch ausgerichtetes Bild von der Person Welles zeichnet, das man so noch niemals gesehen hat. Dabei arbeitet er sich in Kapiteln vor, die jeweils einen Teilaspekt beleuchten. Als erstes betrachtet er dabei Welles‘ politische Einstellungen, die stark von seiner Mutter und seiner Kindheit geprägt wurden. Ein spannender Einstieg, der weit über die sonstigen Kindheitsgeschichten hinausgeht und im Film immer wieder eine tragende, analytische Rolle spielt. Und nebenbei umschifft Cousins hier die klassische biografisch ausgerichtete Arbeitsweise. Er will lieber dem Mann in die Augen sehen, statt über seine Kindheit zu lesen. Und so formuliert Cousins in seinem unverkennbaren schottischen Singsang einen liebevollen, neugierigen Brief, den er als Voice-over über die Bilder legt, die einerseits Archivaufnahmen, andererseits assoziierende Bilder sind, die lose mit den Ideen und Gefühlen korrespondieren, anstatt ganz klassisch zu dokumentieren.

Cousins sucht auch nach den Orten, die Welles besucht hat und die ihn prägten. Egal ob Irland, wo er als Junge eine Weile lebte, Marokko oder New York, der Film versucht den Menschen zu finden, indem er seine Kamera dort positioniert, wo Welles einst seine hinstellte. Denn die Augen des Orson Welles sind vor allem eine Metapher für das visuelle Denken, dem Cousins hier vorrangig auf der Spur ist. Wie dachte dieser Mann, was brachte ihn dazu, Meisterwerke herzustellen wie kein anderer? Wie kommt ein junger Mann, der zeichnet und Theater spielt, dazu, mit seinem ersten Film überhaupt eines der großen Meisterwerke der Filmgeschichte herzustellen? Und vor allem geht es immer wieder um die Frage, woraus sich eigentlich die Faszination für diesen Menschen schürt. Und hier wird es sehr persönlich für den Filmemacher, der ein großer Fan von Welles ist und selbst herausfinden will, was es genau ist, das ihn so fasziniert. Und so gräbt er weiter. In die Figurentypen, die Welles selbst faszinierend fand. So wie Don Quixote, der Träumer aber auch der Chevalier, denn Ehre und Ehrlichkeit waren Welles mehr als nur wichtig. Und auch die Liebe und Liebenden des Meisters betrachtet Cousins, jedoch nie auf einer persönlichen Ebene, sondern auch hier abstrakt, abgesetzt und ganzumfänglich.

The Eyes of Orson Welles ist wahrlich Cousins beste Arbeit bisher. Doch es gibt ein großes „aber“. So genial er durch den Film führt, so wunderbar er argumentiert, zusammenfasst, assoziiert, es gibt ein Problem mit Cousins Film. Der Filmkritiker sieht sich selbst nicht als Experte, als Instanz, sondern als Suchender, was grundsätzlich eine erfrischende Einstellung ist. Genau deshalb ist sein Voice-Over immer prall gefüllt mit rhetorischen Fragen und Assoziationen, mit Bezügen auf das Suchen, denn solch eine akusmatische Stimme (eine Stimme im Film, die keinem Körper auf der Leinwand zugeordnet werden kann) ist ein wunderliches, mächtiges Ding. Sie ist per Definition eine Instanz, eine Gottesstimme und dies lässt sich auch durch all diese Mechanismen nicht ganz nivellieren. Man glaubt solchen Stimmen, ihre Worte haben große Macht. Sie sind mehr als nur Erzähler.

Und obwohl sich Cousins dem offensichtlich sehr bewusst ist, lässt er im letzten Kapitel Orson Welles selbst als akusmatische Stimme auftreten. Noch dazu mit Worten, die Cousins selbst verfasst hat, als eine Antwort auf seinen eigenen gesprochenen Brief. Genau hier bricht der Film sehr plötzlich aus, diese Idee, sie wird sofort zu einem Augenblick von Unwohlsein, denn sie überschreitet eine Grenze. Den Toten als Gottesstimme auferstehen zu lassen und ihm Worte in den Mund zu legen, das ist mehr als nur eine Art des Diskurses, es ist eine Grenzüberschreitung in Sachen dokumentarischer Ethik, quasi eine eigenartige Mischung aus Anmaßung und Leichenfledderei, bei der sich zumindest die Frage nach der Legitimität stellt. Dieser Winkelzug ist dann einer zu viel.

The Eyes of Orson Welles (2018)

Dank des uneingeschränkten Zugangs zu Hunderten von privaten Zeichnungen und Bildern von Orson Welles entwirft der Filmemacher Mark Cousins ein ganz neues und überaus faszinierendes Bild des Schaffens des Jahrhundertgenies, dessen Widerhall und Nachwirkungen sich bis in die heutige Zeit erstrecken.

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