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Manche Menschen sehen politische Krisen erst, wenn sie eine persönliche Krise durchmachen. So geht es zwei Figuren in Catherine Corsinis neuem Film, der die krisengeschüttelte Grande Nation auf eine Nacht in einer Notaufnahme kondensiert.

In den besten Händen (2021)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Kurioser Kollaps

Catherine Corsinis neuer Film feierte 2021 im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes seine Weltpremiere. Inzwischen hat sich die Welt dramatisch weitergedreht. Wenn der Film in die deutschen Kinos kommt, tobt im Osten Europas ein Krieg. Und im Westen geht der liberale Präsident Emmanuel Macron zum zweiten Mal nach 2017 in die Stichwahl gegen die rechtsextreme Marine Le Pen. Durch Frankreich geht ein Bruch. Wie tief diese derzeit spürbare tiefe Verwerfung ist, zeigt Corsini in verdichteter Form, die unsere Gegenwart kongenial vorwegnimmt.

Die Geschichte spielt in nicht einmal 24 Stunden in einem Pariser Krankenhaus. Corsini nimmt vier Figuren in den Blick: die Comiczeichnerin Raphaëlle (Valeria Bruni Tedeschi), genannt Raf, und die Verlegerin Julie (Marina Foïs), den Lastwagenfahrer Yann (Pio Marmaï) und die Krankenschwester Kim (Aïssatou Diallo Sagna). Sie alle hätten Besseres zu tun. Doch Verletzungen und Pflichtgefühl halten sie davon ab und bringen sie in einer überfüllten und personell unterbesetzten Notaufnahme zusammen.
 
Die Idee zu ihrem neuen Film, der im Original den treffenderen Titel La fracture trägt, kam Corsini, als sie wie ihre Filmfigur Raf wegen eines Sturzes ins Krankenhaus musste und dort das Geschehen in der Notaufnahme beobachtete. Die Autorenfilmerin, 1956 geboren und seit den 1980ern im Geschäft, hält nicht nur wie im klassischen geschlossenen Drama die drei Aristotelischen Einheiten von Zeit, Raum und Handlung ein, sie wagt auch etwas Neues. Erstmals hat sie lange, ungeschnittene Sequenzen mit einer agilen Kamera gedreht. Von der Schulter aus gefilmt bringen die Bilder der Kamerafrau Jeanne Lapoirie ein wenig Nachrichtenatmosphäre in den Kinosaal. Die Unmittelbarkeit überträgt sich aufs Publikum, das gemeinsam mit den Figuren mitten im Chaos steckt.

Das Krankenhauspersonal streikt, was zu langen Wartezeiten führt. Kim (hervorragend von einer echten Krankenschwester gespielt) erscheint trotzdem zum Dienst. Obwohl zu Hause ihr Baby mit Fieber im Bett liegt, tritt sie die sechste Nachtschicht in Folge an und kümmert sich aufopferungsvoll um ihre Patien:innen. Nach und nach läuft die Notaufnahme voll. Vertreter:innen der Gelbwestenbewegung haben auf dem Champs-Élysées demonstriert und sind von der Polizei in die Mangel genommen worden. Zu den Opfern zählt auch Yann, der im Krankenhaus alsbald mit Raf aneinandergerät. 

Raf und Julie sind seit zehn Jahren ein Paar. Julie will sich trennen, was Raf nicht akzeptiert. Im Krankenhaus schlägt sie verbal in alle Richtungen um sich. Zu Julies Verärgerung, jedoch zum großen Amüsement des Kinopublikums benimmt sich die erwachsene Frau wie ein trotziges Kind. Über all dem Drama vergisst Corsini die komischen Momente nicht.

Patienten fallen aus Betten, Kabelstränge krachen aus der Deckenverkleidung, und beim Röntgen sind akrobatische Verrenkungen nötig, weil der Notdienst nicht am Gerät geschult ist. Slapstick-Einlagen angesichts eines zusammenbrechenden Gesundheitssystems. Lachen und Weinen liegen bei Corsini nah beieinander. Denn eigentlich ist das hier alles gar nicht lustig. 

Die Handlung, die Corsini wie schon bei La Belle Saison: Eine Sommerliebe (2015) und An impossible Love (2018) in Zusammenarbeit mit Laurette Polmanss und erstmals auch gemeinsam mit Agnès Feuvre geschrieben hat, mag wie die Figuren etwas formelhaft erscheinen, verfehlt aber ihre Wirkung nicht. Corsini inszeniert das Krankenhaus als Sammelbecken der Gesellschaft. Hier treffen Menschen aufeinander, die ansonsten getrennte Wege gehen und die eigentlich nicht hierher gehören: psychisch Kranke, Drogenabhängige, vereinsamte Alte, die niemanden in ihrem Leben haben und sich nach Nähe sehnen. 

Und wie so oft, wenn sich Sphären, die sich im Alltag weit voneinander entfernt haben, plötzlich berühren, stellt sich gegenseitiges Verständnis ein. Menschen wie Raf und Yann, die einander, die jeweils andere Klasse und alles, wofür diese steht, geringschätzen, wenn nicht gar verachten, kommen miteinander ins Gespräch und erkennen, dass ihre Probleme gar nicht so weit voneinander entfernt sind.

Ob bei Raf und Julie am Ende dieser langen Nacht, in der sich die dramatischen Vorkommnisse ganz gemächlich ins Absurde steigern, der Groschen gefallen ist, lässt Corsini offen. Das Publikum zumindest hat begriffen, dass sich die gesellschaftliche Mitte in ihrer „bourgeoisen Blase“, wie Corsini es nennt, zu gemütlich eingerichtet und die Solidarität mit anderen Klassen dabei aus den Augen verloren hat.

In den besten Händen (2021)

Angesiedelt in einer einzigen Nacht in der Notaufnahme eines Krankenhauses erzählt „La fracture“ von persönlichen wie politischen Krisen in Frankreich. 

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