Stoker

Der Schatten des Zweifels

Park Chan-Wooks neues Werk Stoker, der in diesem Jahr als Abschlussfilm der Festivals in Rotterdam zu sehen war, ist ein Film, den man in seiner Gesamtheit gar nicht besprechen kann — so komplex und betörend kommt er daher. Aber man kann sich annähern, wenn man ihn in Einzelteilen betrachtet. Und diese dann wieder zusammensetzt. Und doch bleibt der Film natürlich mehr als die Summe seiner Einzelteile. Oder mit anderen Worten: Stoker muss man gesehen haben.
Viele, unendlich viele Anspielungen und Querverweise trägt der Film in seinem Verlauf mit sich. So viele, dass es unter Filmfans schon bald ein neues Spiel werden könnte, sie alle zu erkennen. Schon der Name gibt einen ersten Hinweis: „Stoker“ bedeutet der Anheizer, der Aufrührer und ganz eindeutig bezieht sich der Titel nicht nur auf den Familiennamen, sondern auch auf den bis dato unbekannten Onkel Charlie (Matthew Goode), der nach dem Tod seines Bruders plötzlich aus dem Nichts auftaucht. Doch die ersten Bilder des Filmes gehören dem eigentlichen Star von Stoker: India (Mia Wasikowska). Blass, mit dunklen Haaren, steht sie am Rande einer Straße und schaut in einen Abgrund. Erst am Ende des Filmes wird klar werden, was sie dort sieht. Der plötzliche Tod ihres Vaters macht sie zu einem modernen Hamlet. An der Seite ihrer gefühlskalten Mutter (Nicole Kidman) sieht sie in aller Stille mit an, wie der geheimnisvolle Onkel ins Haus zieht und der Mutter alsbald näher kommt. Bald schon stellt sich heraus, dass das, was der Onkel wirklich will, India ist. Und dabei geht er über Leichen. Was India nicht abstößt. Im Gegenteil…

Geschrieben wurde das Drehbuch übrigens von Wentworth Miller, eigentlich bekannt als Hauptdarsteller der US- Fernsehserie Prison Break. Ebenfalls bemerkenswert: Stoker ist der erste englischsprachige Film des Koreaners Park Chan-Wook, der selbst nur wenig English spricht. Ob die Dialoge deshalb so reduziert sind? Bestimmt nicht, der Regisseur weiß sich vielmehr anders auszudrücken. Zum Beispiel durch die vielen Verweise, die hier zu finden sind, die in nur einem Augenblick eine ganze Ikonographie aus mehr als 100 Jahren Filmgeschichte und einer noch viel weiter zurückreichenden Literaturgeschichte aufrufen können. Shakespeare, Bram Stokers (!) Dracula, Hitchcocks Im Schatten des Zweifels, Alejandro Aménabars The Others – die Liste ist lang und beileibe nicht die einzige Art, wie der Film kommuniziert. Ein weiteres Mittel sind die Ausstattung und die Atmosphäre. Wann der Film spielt und wo? Das kann man beim besten Willen nicht näher einordnen; vielmehr ist er zeitlos und nicht gebunden an einen echten Ort. Wie im Märchen schwebt der Film in einer Sphäre, in denen Ort und Zeit völlig irrelevant sind. Virtuos verweben sich in Park Chan-Wooks Bildern altvertraute Versatzstücke des Gothic Horrors mit modernen Elementen eines Psychothrillers. Zudem zeigt sich einmal mehr, dass man jungen Mädchen mit unschuldigen Gesichtern (man erinnere sich an Mathilda aus Léon, der Profi, Hit-Girl aus Kick-Ass und Hanna aus Wer ist Hanna?) zumindest im Kino schon lange nicht mehr trauen kann. Sie sind, so scheint die jüngste Filmgeschichte uns sagen zu wollen, wie kleine Katzen. Niedlich, aber mit scharfen Krallen bestückt.

Stoker hat das Privileg, dass seine Bilder von Chung Chung-Hoon stammen, dem gleichen Kameramann, der schon bei Park Chan-Wooks Lady Vengeance und seinem wohl bekanntesten Film Old Boy für die makellose Bildsprache sorgte. Komponiert sind sie in einem Rhythmus, der einen immer weiter einsaugt in den Film, wie ein Herz, welches immer schneller aber nie zu schnell schlägt – eine subtile Taktik, die das Morbide, die leise Gefahr und den Horror stets sanft untermalt. Die Bilder sind stets lupenrein und von einer brillanten Ästhetik – Terrence Malick und Paul Thomas Anderson könnten es nicht besser machen. Das wohl beeindruckendste Bild gelingt am Ende des Films: eine rot-weiße Blüte, die bei näherer Betrachtung eigentlich nur weiß ist. Denn das Rot ist Blut – und zwar in solch einer ästhetischen Form dargebracht, wie man es schon seit langem in keinem Film mehr gesehen hat.

Ist also alles perfekt? Nein, nicht ganz. Aber das wäre ja auch langweilig. Der Film hat durchaus einige Längen, über mehr als die Hälfte seiner Laufzeit spielt er mit seinen Anspielungen, er deutet an und verführt den Zuschauer weitaus länger, als es nötig wäre. Und auch die Auflösung der Geschichte dürfte wohl hier und da für Enttäuschung sorgen; denn Hand aufs Herz: Genauso hat man es kommen sehen. Andererseits macht genau das diesen Film aus. Er gleicht einer süßen und sündigen Frucht, über die lange niemand offen spricht, gerade weil sie jeder kennt. Und trotzdem — es ist köstlich, wenn man dann endlich einmal von ihr gekostet hat.

Keine Frage: Stoker ist ein Genuss – und zwar in vielerlei Hinsicht.

(Festivalkritik vom 42. Internationalen Filmfestival Rotterdam, Beatrice Behn)

Stoker

Park Chan-Wooks neues Werk „Stoker“, der in diesem Jahr als Abschlussfilm der Festivals in Rotterdam zu sehen war, ist ein Film, den man in seiner Gesamtheit gar nicht besprechen kann — so komplex und betörend kommt er daher. Aber man kann sich annähern, wenn man ihn in Einzelteilen betrachtet. Und diese dann wieder zusammensetzt. Und doch bleibt der Film natürlich mehr als die Summe seiner Einzelteile. Oder mit anderen Worten: „Stoker“ muss man gesehen haben.
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Meinungen

daniel · 03.06.2013

vater tot, eine langsam der welt entrückende mutter, eine sich (von dieser) emanzipierende tochter. entsprechende rivalität mit erotischer konnotation. klassischer, beinah archetypischer stoff. kamera, schnitt und musik reichern jedoch an, laufen zuwider, laufen parallel, überschneiden und unterminieren die an sich erzählte geschichte, sodass etwaige primärgewichtung schwerlich auszumachen ist. ein in vielen kritiken bemängeltes fehlen der stringenz im skript erweist sich damit, beabsichtigt oder nicht, meines erachtens auf verquere art als glücksfall, sie bietet offenheit, in der eben andere ebenen, vom referenzdschungel bis zur wahrlich beeindruckenden bildmontage, wirken oder gar emanzipieren können.

und - für park, soweit ich seine arbeit kenne, ungewöhnlich - es lässt der film für das wirken dieser ebenen sogar einige zeit...

ein schlecht englisch sprechender koreaner filmt mit teils amerikanisch-britischer crew ein englischsprachiges script. ...möglich, dass man dennoch spaß hatte und letztlich, wenn vielleicht auch nicht immer einen gemeinsamen nenner, so dennoch irgendwie eine gemeinsame ebene errang, auf der man wirken konnte. irgendwie wirkt dieser film als eine solchen bedingungen gemäße entsprechung...

David · 11.05.2013

Hab den Film am Donnerstag gesehen und war begeistert. Habe schon lange keinen so guten Film mehr gesehen. Die Thematik wurde überzeugend und in vorher noch nie gesehener Form dargebracht. Die Darsteller verleihen dem Film Tiefe und auch die Arbeit des Regisseurs ist hervorragend. "Stoker" wirkt noch lange nach dem Schauen nach, bietet Gesprächsstoff und der ein oder andere wird ihn sich vielleicht nocheinmal anschauen. Ich auf jeden Fall:)