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Zwischen September 2000 und März 2007 fielen dem Nationalsozialistischen Untergrund acht Männer aus türkischen Einwandererfamilien, ein Mann aus griechischer Einwandererfamilie und eine Polizistin ohne Migrationshintergrund zum Opfer. Aysun Bademsoys Dokumentarfilm erinnert an sie.

Spuren - Die Opfer des NSU (2020)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Erschütterungen, Erinnerungen

Die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) hinterlassen auch im Kino tiefe Spuren. Fatih Akins „Aus dem Nichts“ (2017) und Jan Bonnys „Wintermärchen“ (2018) erzählen fiktionalisierte, an die wahren Ereignisse angelehnte Varianten. Dokumentarfilme wie „Der Kuaför aus der Keupstraße“ (2015) oder „6 Jahre, 7 Monate & 16 Tage“ (2017) nehmen die Opfer, deren Angehörige und die Tatorte in den Blick. Das tut auch Aysun Bademsoy. Die lange Zeit fehlgeleitete Spurensuche der Ermittler spielt bei ihr nur eine untergeordnete Rolle. Ihr geht es um die Spuren in Psyche und Seele der Hinterbliebenen und darum, was deren Verwundungen für unser Zusammenleben bedeuten.

Die Dreharbeiten haben noch vor dem Ende des NSU-Prozesses begonnen. Die Enttäuschung, Wut und Resignation nach der Urteilsverkündung nehmen einen wichtigen Platz im Film ein. Zunächst beginnt die Regisseurin aber von vorn. Dort, wo Enver Şimşek am 9. September 2000 ermordet wurde, wächst neues Leben in die Höhe. Sein ehemaliger Mitarbeiter Ali Toy hat nur ein paar Meter vom Tatort entfernt zu Şimşeks Gedenken mehrere Bäume gepflanzt. Bademsoy fragt mal auf Deutsch, mal auf Türkisch nach, hört aber zuvörderst zu und gibt so denen eine Stimme, die im öffentlichen Diskurs zu kurz kommen.

Auch Enver Şimşeks Witwe Adile erinnert ein Baum an ihren Mann. Er steht in einem Garten in der Türkei. Mit ihrer Tochter Semiya und dem Enkelkind ist sie dorthin zurückgekehrt. Ein Neustart nach all den quälenden Fragen der Ermittler und den bösen Blicken der Nachbarn. In einer der berührendsten Szenen dieses Films berichtet Adile, wie sie endlich wieder erhobenen Hauptes vor die Tür treten konnte, als endlich bewiesen war, dass die Ermordung ihres Mannes einen rechtsterroristischen Hintergrund und nichts mit lange unterstellten kriminellen Machenschaften zu tun hatte. Nur ein paar Schritte von Envers Baum entfernt steht ein zweiter, der Adiles Namen trägt. Ein passendes Bild: von Unbill geschüttelt, aber standhaft und stark.

Für Aysun Bademsoy war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie sich mit dem NSU auseinandersetzte. Bereits die ersten Morde, lange bevor deren Täter bekannt waren, hätten ein merkwürdiges Gefühl bei ihr ausgelöst. 1960 in Mersin an der türkischen Mittelmeerküste geboren, zog Bademsoy neun Jahre später mit ihrer Familie nach Berlin. Sie hat Theaterwissenschaft und Publizistik studiert, als Schauspielerin und Cutterin gearbeitet und als Regieassistentin und Produktionsmanagerin an Filmen von Harun Farocki und von ihrem Ehemann Christian Petzold mitgewirkt.

Ihre eigenen Dokumentarfilme kreisen nicht ausschließlich, aber häufig um Themen wie Herkunft, Heimat, Kultur, Integration und Diskriminierung. Sie handeln mal von türkeistämmigen Fußballerinnen (Mädchen am Ball, Nach dem Spiel, Ich geh jetzt rein), mal von Beamten, die aus Einwandererfamilien abstammen (Deutsche Polizisten), oder sie spüren einem altmodischen Begriff und seiner Bedeutung für heutige Jugendliche nach (Ehre).

Über ihre Generation, für die Deutschland längst zur Heimat geworden ist, sagt Bademsoy Sätze wie: „Wir waren Deutsche und hatten Vertrauen in diesen Staat“. Durch den NSU und all die Begleitumstände habe dieses Vertrauen einen Riss bekommen. Die tiefe Erschütterung des Glaubens an den Rechtsstaat, von der die Regisseurin auch in ihrem Film spricht, findet sich in vielen Aussagen der Angehörigen wieder.

Nicht alle kommen zu Wort, denn nicht alle waren bereit, vor die Kamera zu treten. Bei den Eltern des am 6. April 2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat etwa saßen Wut und Schmerz nach der Urteilsverkündung zu tief. Andere wie Süleyman Taşköprüs Bruder oder Mehmet Kubaşıks Frau und Tochter machen eindrücklich nachvollziehbar, wie sehr die falschen Verdächtigungen den Hinterbliebenen zugesetzt haben, und dass sich die Lücken, die die gewaltsamen Tode gerissen haben, bis heute nicht schließen lassen.

Spuren gibt den Angehörigen die Gelegenheit, ihrer Verstorbenen so zu gedenken, wie sie sie sehen und nicht so, wie die mediale Öffentlichkeit sie lange gesehen hat. Ohne es explizit zu formulieren, drängt sich dabei die Frage auf, wie die Presse wohl über eine Mordserie an deutschen Kleinunternehmern ohne Migrationshintergrund berichtet hätte. Hätte ein ähnlich plakatives Wort wie „Dönermorde“ für eine Schlagzeile herhalten müssen? (Unter den Ermordeten waren wohlgemerkt nur zwei, die in einem Döner-Imbiss gearbeitet haben.) Und hätten Presse und Polizei ähnlich hartnäckig nach Verbindungen zum organisierten Verbrechen gesucht?

Spuren zeigt zum einen, dass es mit bloßen Lippenbekenntnissen im Kampf gegen Rechts nicht getan ist, wenn vorurteilsbehaftetes Denken ganze Behörden und Medienhäuser durchzieht, und dass unsere Gesellschaft mehr tun muss, wenn sie Menschen, wie die im Film gezeigten nicht verlieren will. Ganz nebenbei verdeutlicht Bademsoy zum anderen aber, dass die überwältigende Mehrheit dieser Menschen gekommen ist, um zu bleiben.

Die Namen der Täter kennt fast jeder, so sehr haben sie sich durch die Berichterstattung ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt. Die der Opfer haben die wenigsten präsent. Spuren erinnert an sie: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter.

Spuren - Die Opfer des NSU (2020)

Zwischen September 2000 und April 2007 wurden acht Männer mit türkischen Wurzeln, ein griechischstämmiger Mann sowie eine deutsche Polizistin ermordet. Die Ermittlungen wurden zunächst ausschließlich im Umfeld der nicht-deutschen Opfer mit Verdacht auf Drogenhandel und organisierte Kriminalität geführt. Die Familien der Ermordeten wurden so ein weiteres Mal zu Opfern, diesmal von vorurteilsvoller Stigmatisierung. Nach einem gescheiterten Bankraub führte die Spur schließlich zu der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Nach dem Suizid der beiden Haupttäter begann 2013 der Prozess gegen die einzige Überlebende des NSU-Trios, Beate Zschäpe, sowie vier mutmaßliche Helfer und Unterstützer und endete 2018. Die zu milden Strafen für die Mitangeklagten und die zahlreichen ungeklärten Fragen ließen die Angehörigen der Opfer enttäuscht und desillusioniert zurück. Ihr Glaube an den Rechtsstaat ist grundlegend erschüttert.

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