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Denis Côtés neuer Film „Social Hygiene“ ist Social-Distancing-Kino vom Feinsten. Menschen stehen in großem Abstand auf Wiesen und sinnieren über ihre Funktion in der Gesellschaft. Und das ist eigenartig, aber prima.

Social Hygiene (2021)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Menschen, die auf Wiesen schreien

Komödien sind ja eigentlich nicht Denis Côtés favorisiertes Metier, doch wie es der Zufall so will, kommen in „Social Hygiene“ so einige Dinge zusammen, die dieses Werk zu einem machen, das man durchaus als komödiantisch bezeichnen kann. Wenn man tiefschwarzen Humor gut zu nehmen weiß.

Social Hygiene ist ein Film, in dem Menschen in großem Abstand auf Wiesen stehen und sich 75 Minuten lang dialogisch anschreien. Weil sie eben sehr weit von einander weg stehen. Ein wahrlicher Corona-Film also, der schon in seiner Grundkonzeption kein Problem hatte, die Sicherheitslinien für Filmdrehs in der Pandemie einzuhalten. Das Interessante daran ist jedoch, dass das Timing dieses Werks, gerade jetzt zu drehen, wo wir alle auf Abstand sein müssen, gar nicht an den derzeitigen Umständen liegt. Konzipiert wurde der Filme von Côté schon im Jahr 2015, als dieser eine Weile in Sarajevo verbrachte und viel Zeit und Langeweile hatte. Zu dieser Zeit sinnierte der Filmemacher über die Ideen von sozialen Bindungen und Abständen. Vielleicht war er seiner Zeit voraus. Oder seine Ideen finden gerade jetzt einen besonderen Anklang. Egal wie: Social Hygiene ist auf absurde Art zeitgeistig.

Antonin (Maxim Gaudette) ist ein Herumtreiber, der in einem Auto schläft und tagsüber Touristen beklaut, weil das wenigstens eine ehrliche Arbeit ist. Sein Körper schmerzt, sein Herz changiert zwischen ehrlicher Liebe und noch ehrlicherem Zynismus hin und her, während er sich in jeder einzelnen Handlung immer wieder dazu entschließt, das Gegenteil von dem zu tun, was von ihm erwartet wird. Man könnte ihn antisozial nennen, doch eigentlich sind sein Trotz und Widerstand das Gegenteil. Antonin begehrt dagegen auf, eine Funktion zu sein, die ihm als Mann und Mensch nun einmal konstant zugesprochen wird, denn so funktioniert unsere kapitalistisch-patriarchale Gesellschaft nun einmal. Keine/r entkommt den Schubladen und Funktionsansprüchen. 

In einer kleinen Ansammlung von Tableaus, die stets auf Weite gedreht dem Publikumsauge ein mehr an Wiesen, Wäldern und Wolken bietet, entwickelt sich also Antonins Geschichte. Spannend dabei ist, dass dieser anscheinend nicht allein existieren kann, sondern ausschließlich in Opposition. Fünf Frauen stellen sich ihm entgegen und jede hat — aus gutem Grund — ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Seine prüde Schwester Solveig (Larissa Corriveau) ermahnt ihn ob seiner Taugenichtsigkeit und Devianz der Familienehre. Seine Frau Églantine (Evelyne Rompré) sieht ihn nur noch in Teilzeit und hat sich schon einen Liebhaber gesucht. Doch auch sie mahnt ihn zur Ehehygiene, wenigstens ab und zu. Casiopée (Eve Duranceau) ist seine neue Flamme. Hier taut der karge Zyniker ein wenig auf, doch auch sie erhebt sich, um ihn zu schelten. Er soll sein Leben auf die Reihe kriegen, einen Job annehmen und wieder der Filmemacher und Schriftsteller werden, der er einmal fast geworden wäre, denn das sei wichtig für die Romantik. Rose (Kathleen Fortin) wiederum kommt mit einer richtigen Mahnung. Vom Finanzamt, denn der gute Antonin schuldet dem Staat mächtig Schotter. Zuletzt ist es Aurore (Éléonore Loiselle), die Antonin beklaut hat und die ihn tagelang durch die Wiesen verfolgte. Auch sie ist eine Mahnerin, die Antonin daran erinnert, dass Devianz Folgen hat. 

Social Hygiene changiert zwischen dem Befreiungsakt von sozialen Zwängen und dessen Folgen hin und her. Es ist unmöglich, die ProtagonistInnen nicht zu hassen und sie gleichsam zu einhundert Prozent zu verstehen. Wer frei sein will, muss egoistisch sein, ja regelrecht narzisstisch nur auf sich fixiert. Und doch, die Freiheit ist interessant und verlockend, sie hat einen Charme, eine Egalität. Genau das ist Antonin: ein Freigeist und ein Arschloch zugleich.

Interessant wird es aber vor allem, wenn man ihn in Relation zu den Frauen sieht. Sie allesamt versuchen, ihn einzuordnen in die soziale Ordnung, je nachdem wo sie ihn brauchen. Sie sind Gefängniswärterinnen und Retterinnen zugleich, denn es ist klar: Ohne sie wird er untergehen. 

Was nur peripher mitschwingt und sich doch im Verlauf des Werkes immer weiter kristallisiert, sind die Verquickungen und Imbalancen der Geschlechter. Keine/r kann ohne den/die andere existieren oder frei sein. Und gleichsam nehmen wir uns alle gefangen. Vielleicht ist es ja wirklich der Abstand, egal ob physisch oder gesellschaftlich, den Côté hier als visuelles und emotionales Hilfsmittel benutzt, der erlaubt, diese Sozialstrukturen näher zu analysieren. Denn wahrlich, aufgeräumt und geputzt werden müssten die dringend.

Social Hygiene (2021)

Der Dandy Antonin weiß mit Worten umzugehen. Er hätte das Zeug zum berühmten Schriftsteller, aber meist nutzt er sein Talent nur, um sich aus misslichen Situationen herauszulavieren. Aufgerieben zwischen Anpassung an die Gesellschaft und dem Versuch, ihr zu entkommen, sieht er seinen Charme und Witz unvermittelt auf eine harte Probe gestellt. Hierfür sorgen fünf Frauen, die mit seiner Leben-und-leben-lassen-Einstellung allmählich die Geduld verlieren: seine Schwester, seine Gattin, die Frau, die er begehrt, eine Finanzbeamtin und eine Frau, die zum Opfer seiner kleinen Verbrechen wird.

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