Simons Geheimnis

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Vielstimmige Eleganz

Soll man das glauben: Ein jordanischer Terrorist setzt seine schwangere Verlobte in ein israelisches Flugzeug und schmuggelt ohne ihr Wissen eine Bombe ins Handgepäck? Ein Liebender opfert Frau und Kind für die vermeintlich gute Sache? Der kanadische Regisseur Atom Egoyan macht aus diesen Fragen ein faszinierendes Verwirrspiel. Und gibt am Ende seiner meisterhaften Parabel über Sein und Schein ein paar überzeugende Antworten – allerdings auf einer ganz anderen Ebene, als man sie vermutet hätte.
Eines vorweg: Der Terrorist hatte das Attentat auf die EL-AL-Maschine im Jahr 1986 tatsächlich so geplant. Glücklicherweise entdeckten die Sicherheitsleute am Flughafen den Sprengstoff, der 400 Passagiere und Besatzungsmitglieder in den Tod gerissen hätte. Es gibt also in der Wirklichkeit eine Frau, die mit diesem Wissen leben muss. Und es gibt ein Kind. Wie fühlt sich dieser Mensch 18 Jahre später, an der Schwelle zum Erwachsenwerden? Das ist die Ausgangsfrage von Simons Geheimnis.

Simon (Devon Bostick) weiß, wie es ist, wenn der Vater als Mörder beschuldigt wird. Deshalb gerät er in eine Art Schreibrausch, als seine Französischlehrerin Sabine (Arsinée Khanjian) den Zeitungsartikel über das gescheiterte Attentat in den Unterricht einbringt und die Schüler auffordert, die Geschichte mit ihren Worten nachzuerzählen. Könnte Simon mehr mit dem Thema zu tun haben als ihm lieb sein kann? Das wissen wir am Anfang nicht. Und es würde den Sog dieses wunderbar vielschichtigen Films erheblich beeinträchtigen, wenn man dem Zuschauer vorab zu viel von der Geschichte verraten würde.

Erzählen wir lieber von der traurig-schönen Musik und vor allem von der musikalischen Struktur von Egoyans stilsicherem Kunstwerk. Am Anfang beobachten wir Simon zu melancholisch-tiefen Streicherklängen auf einer Wiese. Der Schnitt erfolgt genau in dem Moment, in dem die Violine einsetzt. Wir sehen einen Steg, einen See, eine stille Landschaft. Und auf dem Steg die Geigerin, die sich versonnen ihrem Spiel hingibt und den kleinen Jungen lange nicht bemerkt, der wie gebannt am Ufer steht, sich vom Spiel der Mutter fesseln lässt. In der kleinen Szene ist die Ästhetik dieses Films im Kern enthalten: ein soghafter Rhythmus, in dem die Zeitebenen und die Leitmotive miteinander verwoben werden. Man muss gar nicht die Aufmerksamkeit schärfen und sich fragen, wo man sich gerade befindet. Man kann sich wie bei einer Sonate tragen lassen von der Melodie, von ihren Wiederholungen und von der Gegenläufigkeit weiterer Themen.

Atom Egoyan (Ararat, Wahre Lügen) braucht gar nicht viel, um das für wahr Gehaltene Schritt für Schritt zu erschüttern. Wie ein Komponist verändert er elegant die Tonart, bringt ungewohnte Harmonien ins Spiel, lässt Dissonanzen aufscheinen, bis nach und nach etwas Neues entsteht. Neben der ersten Stimme, die den handelnden Charakteren gewidmet ist, bringt er eine zweite und dritte Stimme ins Spiel. Die zweite Stimme fragt nach den modernen Medien Internet und Handy und nach dem Unterschied, den es macht, wenn dieselbe Geschichte entweder auf einer Theaterbühne oder im Internet erzählt wird. Dabei singt der Regisseur keineswegs das „Früher war alles besser“-Lied. Er seziert nur sehr genau die Mechanismen und sozialen Konsequenzen der Chatrooms und geborgten Identitäten. Aber gerade deshalb erschrickt der Zuschauer umso mehr über das, was den Menschen dort entgleitet.

Eine dritte Stimme handelt von dem Konflikt der Religionen, von Islam und Christentum, vom Fundamentalismus auf beiden Seiten. Aber auch diese Stimme ist so perfekt eingebunden und verschmilzt mit der Leitmelodie: drei schuldhaften Menschen auf der Suche nach einer Wahrheit, die sie einander näher bringt. Und jeden für sich tief in der Persönlichkeit ein Stückchen weiter – eine Entwicklung, die viel glaubwürdiger ist als der Oberflächengehalt einer Zeitungsmeldung.

Simons Geheimnis

Soll man das glauben: Ein jordanischer Terrorist setzt seine schwangere Verlobte in ein israelisches Flugzeug und schmuggelt ohne ihr Wissen eine Bombe ins Handgepäck? Ein Liebender opfert Frau und Kind für die vermeintlich gute Sache? Der kanadische Regisseur Atom Egoyan macht aus diesen Fragen ein faszinierendes Verwirrspiel. Und gibt am Ende seiner meisterhaften Parabel über Sein und Schein ein paar überzeugende Antworten – allerdings auf einer ganz anderen Ebene, als man sie vermutet hätte.
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