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Idee für einen Abschluss-Dokumentarfilm: Die Eltern nach 25 Jahren wieder zusammenzubringen, und dieses Wiedersehen dokumentarisch zu filmen. Es geht an diesem Nachmittag natürlich schief, was schiefgehen kann – und alles wird mit der Kamera festgehalten …

Seid einfach wie ihr seid (2023)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Alltagshorror, Found-Footage-Style

Eigentlich ein guter Plan – aber ist er gut durchdacht? Für ihren Abschlussfilm an der Filmhochschule will Willie, eigentlich Sienna Wilhelmina (Lou Strenger), ihre Eltern wieder zusammenführen – das erste Wiedersehen seit 25 Jahren. Papa Jürgen (Markus John) hat sich um sie gekümmert in Kindheit und Jugend (und finanziell tut er es noch heute). Mama Gloria (Catrin Striebeck) hat die Familie verlassen, als Willie vier war, hat ein neues, freies Leben begonnen in Portugal. Inzwischen ist sie erfolgreiche Lebenshilfe-Coaching und immer auf dem Sprung. Willies Freund Männi (Jean Paul Baeck) soll alles mitfilmen, die ganze Chose, wie sich die Eltern gegeneinander verhalten und gegenüber Willie, und wie vielleicht alte, lange verborgene Wahrheiten ans Licht kommen …

Plan und Realität sind verschiedene Dinge. Und gleich am Anfang, als Männi mal die Kamera aus der Hand legt, da streicht Willie sich über den Bauch, und wir wissen, was sie weiß und keiner sonst: Sie ist schwanger. Es geht also auch um eine Selbstvergewisserung, um Lebenshilfe für sich selbst, und die Frage nach (Un)Möglichkeit von Elternschaft stellt sich für sie ganz konkret. Zu konkret, wie man schnell merkt, denn für eine dokumentarisch eingefangene Gesprächs- und möglicherweise Konfliktsituation ist die Regisseurin selbst viel zu sehr involviert.

Problem Nummer 2: Jürgen bringt seine zweite Frau Uta mit (Johanna Gastdorf), und auch noch Willies Adoptivbruder André (Florian Geißelmann), und dass da der Knatsch in eine ganz andere Richtung gehen wird, als Willie es sich vorgestellt hat, ist vorprogrammiert. „Konflikt als Mittel zum Zweck“, dieses Motto soll eigentlich ihren Abschlussfilm tragen, aber weil alles explodiert, ist der Zweck bald weg.
 
Alice Gruia, die wirklich echte Regisseurin von Seid einfach wie ihr seid, bringt eine erfrischende und lustige und kompakte Variante des Found Footage-Films auf die Leinwand. Nicht im Wald auf Hexenspuren oder in einem Hochhaus voll Zombies, sondern in Omas kleinem Häuschen bei einem Familiennachmittag geht der ganz normale Alltagshorror los. Uta ist schlecht auf Gloria zu sprechen, das sowieso. Von Willie fühlt sie sich auch einigermaßen enttäuscht, weil nicht genug respektiert, mit feiner passiv-aggressiver Negativität macht sie bei deren Abschlussfilm mit.
 
Gloria als Gegenpol steht Uta in Sachen feindselige Spitzen in nichts nach, hat den Trumpf der leiblichen Mutterschaft im Ärmel, während Jürgen irgendwie sowieso nicht weiß, wie er in diesem weiblichen Dreieck sich positionieren soll. Und André, der Teenager, gebärdet sich mehr und mehr als Tricksterfigur, die aus der Konstellation aus Spaß an der Freud das Chaos eskalieren lässt. Dass es zwischen Willie und Männi nicht so recht harmoniert, sei nur nebenbei erwähnt.

Komplett aus der Perspektive von Männis Kamera entfaltet sich ein Knäuel an Konfliktlinien, die Gruia dramaturgisch klug anlegt, leicht löst und dann wieder straffzieht. Und zu den zwischenmenschlichen Situationen, die hier ausgespielt werden, kommen ständige, zumindest latente Probleme bei Willies filmischer Inszenierung und die Frage, wieweit ihr Dokumentarfilm nun die Realität verbiegen darf. Die erste Begegnung: Jürgen kommt vom Klo, und Gloria stößt auf der engen Treppe gegen ihn, sie ist in BH, weil Kaffee auf die Bluse gekleckert ist. Wichtigste Szene für Willie nicht verwertbar – aber ein kostbarer Augenblick in Gruias eigentlichem Film und Zeichen für ihre eigene reflektierte Inszenierungskunst, wie das Inszenieren durch die Willie-Figur einfach nicht klappen will.

Found Footage: Das ist das angeblich real gedrehte Material einer realen Situation, von Willie herbeigeführt; die Inszenierung dieses Found Footage-Stoffes ist teilweise spürbar gebogen auf die tragikomische Pointierung; realistisch gesehen würde Willie vielleicht nicht ernsthaft glauben, innerhalb ihrer eigenen Dokumentarfilmsituation, in die sie ja selbst stark eingebunden ist und in der stets gefilmt und alles mit Mikros aufgenommen wird, ihre Schwangerschaft verbergen zu können. Aber das macht nichts, denn auch für Gruia gilt: Konflikt als Mittel zum Zweck – nur, dass ihr Film, also der äußere Film, der Willies Filmen zeigt, nicht nur gut geplant, sondern vor allem auch tatsächlich gut durchdacht ist – und gut durchgeführt.

Seid einfach wie ihr seid (2023)

Filmstudentin Willie Lindmann will ihren Abschlussfilm über das Zusammentreffen ihrer Eltern drehen, die sich seit 20 Jahren nicht gesehen haben. So einfach die Idee, so kompliziert die Umsetzung: Denn neben ihren Eltern stehen auch noch ihre Stiefmutter und ihr Adoptivbruder auf der Matte. Statt einer ruhigen Aussprache kochen die Emotionen in kürzester Zeit hoch. Und als Willies Freund ihr dann auch noch einen Heiratsantrag macht, gerät das Projekt vollends außer Kontrolle. (Quelle. Filmfestival Max Ophüls Preis 2023)

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