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Mit ihrem Spielfilmdebüt „Saint Omer“ erzählt Alice Diop nicht nur auf ambivalente Weise den Hergang eines Gerichtsprozess aus dem Jahr 2016, viel mehr noch konfrontiert sie ihr Publikum mit der Unmöglichkeit der Schubladisierung individueller Lebensgeschichten.

Saint Omer (2022)

Eine Filmkritik von Bianca Jasmina Rauch

Die ausweglose Suche nach Eindeutigkeiten

In der französischen Gemeinde Saint Omer findet ein Gerichtsprozess statt: Laurence Coly wird des Mordes ihrer 15 Monate alten Tochter angeklagt. Während die Richterin versucht Motive und Beweggründe aus Coly hervorzuholen, wird die Szenerie von der eigentlichen Protagonistin, der Schriftstellerin Rama beobachtet. Sie möchte das Geschehen in einen Medea-Roman umwandeln und spürt als werdende Mutter selbst zunehmend eine ambige Befangenheit. Als die Aussagen der Angeklagten sich mehr und mehr widersprechen, wird die Geschichte immer brüchiger, statt auf herkömmliche juridische und emotionale Eindeutigkeiten eines Gerichtsdramas zuzusteuern. Mit dieser Brüchigkeit legt die Regisseurin Alice Diop in ihrem Film „Saint Omer“ ein Kaleidoskop aus Versatzstücken und Mechanismen der Unterdrückung und der damit einhergehenden psychischen Belastungen frei, die als Voraussetzungen für Colys Tat gelesen werden können, zugleich aber weder als Erklärungen noch als Rechtfertigungen des Mordes funktionalisiert werden.

Der Fall, dem sich Alice Diop – als Regisseurin machte sich zuletzt mit dem Dokumentarfilm We einen Namen – in ihrem Spielfilmdebüt widmet, trug sich tatsächlich im Jahr 2013 in Nordfrankreich zu. Wie ihre fiktive Protagonistin Rama (Kayije Kagame), besuchte Diop selbst den Gerichtsprozess und fühlte sofort eine Faszination, die einerseits von der ebenso senegalesischen Herkunft der Angeklagten, andererseits von der geteilten Erfahrung der Mutterschaft herrührt.

Mit ihrer filmischen Medea-Figur Laurence Coly (Guslagie Malanda) schafft Diop einen komplexen Charakter, deren Täterinnenschaft per se nicht infrage gestellt, die aber im Gerichtssaal mit rassistischen Vorurteilen und altbekannten Stereotypisierungen konfrontiert wird. So stößt die Migrationsgeschichte von Coly auf Mitleid, ihre eigene Aussage, dass sie und das Kind verhext wurden, führt dazu, dass Anwalt- und Zeug*innenschaft dazu tendiert, die Akademikerin für unzurechnungsfähig zu halten.

Die Tatsache, dass Coly eine Doktorarbeit über Wittgenstein schreibt, löst das Bedürfnis des Anwalts nach der Frage aus, warum sie nicht über eine Person dissertiere, die ihrem eigenen Kulturkreis näherstehe. Es sind von einem weißen Blick gelenkte Aussagen, die als ein Spiegel von Othering-Praktiken gelesen werden können, die für Betroffene alltäglich und deshalb nicht minder belastend sind und die Diop geschickt als Teil ihrer Erzählung ins Licht rückt. Während die Figur der Angeklagten stets kühl und gefasst wirkt, wird Rama umso mehr berührt von diesen Prozesstagen in einer Stadt, in der auf politischer Ebene die Marine Le Pens den Ton angeben.

Gefasst wirkt nicht nur die Angeklagte, sondern gewissermaßen auch die Bildsprache von Saint Omer. Kamerafrau Claire Mathon (u.a. Porträt einer jungen Frau in Flammen, Altantique, Spencer) hält Laurence Coly, sprechend oder schweigend, meist über lange Strecken in einer halbnahen Einstellung fest, die in ihrer farblichen Harmonie einen Kontrast zur narrativen Komplexität zu bilden scheint. In seiner Komposition trägt dieses Bild das Potenzial in sich zu einem ikonischen Moment des Kinos zu werden, in dem sich die Abgründe der Seele in einer selten dargestellten Vielschichtigkeit verdichten.

Sowohl die Richterin (Valérie Dréville), als auch der Vater des Kindes – der entsprechend dem Medea-Mythos die Mutter seines Kindes vernachlässigte –und Rama sind immer wieder in halbnahen, für längere Zeit ruhenden Einstellungen zu sehen. Die Geschichte verlässt aber auch den Gerichtssaal, um Rama zu folgen, wie sie über die Straßen von Saint Omer schreitet, um das Gesehene und Gehörte zu verarbeiten, wie sie in ihrem Hotel pausiert, an ihre eigene Mutter denkt oder mit der Mutter der Angeklagten Essen geht. Ein Unwohlsein begleitet die Schriftstellerin und löst auch beim Zusehen gemischte Gefühle aus, die mit der gewohnten emotionalen Eindeutigkeit von Gerichtsdramen nicht vergleichbar sind. Auch serviert uns Diop kein eindeutiges Psychogramm ihrer Figur, das liegt nicht in der Intention des Films.

Diop selbst berichtet, dass sie von der Filmemacherin und Schriftstellerin Marguerite Duras inspiriert wurde, die u.a., für Hiroshima Mon Amor das Drehbuch verfasste. Mit Ausschnitten aus diesem Film eröffnet auch Saint Omer: Rama hält ein Seminar an der Universität, um ihren Studierenden jenen Film näherzubringen und versucht womöglich sich selbst für eine eigene ambige Romanfigur inspirieren zu lassen. Doch das Gericht möchte kein Ort der Ambiguität, sondern der Eindeutigkeit sein, de facto, oder eher de jure, ist es ein Ort der Entscheidungen.

Daher spüren wir im Gerichtssaal das dringende Klammern nach Schubladen umso mehr. Auch Coly, die berichtet, dass sie während ihrer Schwangerschaft in ein schwarzes Loch fiel, kennt keine Antworten. Doch die Richterin ist angehalten, Eindeutigkeit zu schaffen: Warum hielt sie ihre Schwangerschaft sogar vor dem Kindesvater, mit dem sie zusammenlebte, monatelang geheim? Warum brachte sie das Kind alleine in den eigenen vier Wänden zur Welt? Warum ließ sie ihr Neugeborenes nicht registrieren? Wieso studierte sie Philosophie? Wieso hatte sie kein enges Verhältnis zu ihrer Mutter? Es scheint stets mehrere Versionen einer Geschichte zu geben, die in keine Schublade passen will.

Eindrucksvoll erweist sich gegen Ende hin die Rede der Anwältin der Angeklagten. In einer durchgehenden, nahen Einstellung spricht sie direkt in die Kamera und adressiert damit zugleich die Anwesenden im Gerichtssaal und uns im Kinosaal mit einer Rede, die über den Einzelfall hinausgeht und die eigene Rezeptionshaltung reflektieren lässt. Wie können wir mit unserem begrenzten Wissen über den Strafbestand hinaus über diesen Fall urteilen? Können wir Mutterschaft oder jegliche individuelle Erfahrung jemals begreifen, ohne sie selbst erlebt zu haben? Wie gehen wir damit um, wenn wir keine Antworten finden? Mit Saint Omer wirft  Alice Diop Fragen auf, statt Antworten zu geben, lässt uns unruhig werden, statt uns zu beschwichtigen oder lediglich zu schockieren; mit Saint Omer kreiert Diop Kino, das die strukturelle Komplexität der Gesellschaft in einer ausschnitthaften Szenerie zeigt, die nur verstanden werden kann, wenn wir uns ihren Feinheiten öffnen und uns darauf einlassen, einfach zuhören und sie auf uns wirken zu lassen.

Saint Omer (2022)

Die 30-jährige Romanautorin Rama nimmt in der Gemeinde Saint-Omer an einem Gerichtsprozess gegen Laurence Coly teil, einer jungen Frau, die beschuldigt wird, ihre 15 Monate alte Tochter getötet zu haben, indem sie sie an einem Strand in Nordfrankreich der steigenden Flut aussetzte. Rama plant, aus dem Fall eine zeitgemäße Nacherzählung des Medea-Mythos zu gestalten. Aber während der Prozess weitergeht, läuft nichts so, wie sie es erwartet hatte, und die im vierten Monat schwangere Autorin muss die Wahrheit ihrer eigenen Erfahrungen mit der Mutterschaft in Frage stellen.

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