Run All Night (2015)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Lauf, Liam, lauf!

Vor einiger Zeit äußerte sich der spätberufene Actionstar Liam Neeson eher zurückhaltend über seine weitere Karriere als Hollywoods Haudrauf vom Dienst. Vielleicht zwei Jahre könne er die körperlichen Anforderungen des Genres noch erfüllen, danach werde er sich wahrscheinlich aus dem Testosteron-Kino zurückziehen, ließ er in einem Interview verlauten. Mit dem programmatisch betitelten New-York-Reißer Run All Night, der irgendwo zwischen den Exzessen der 96 Hours-Reihe und Neesons kürzlichem Auftritt im stimmungsvollen Noir-Thriller Ruhet in Frieden – A Walk Among The Tombstones angesiedelt ist, gibt der charismatische Hüne aber erst einmal eine weitere Kostprobe seines Könnens.

Wie so oft in den vergangenen Jahren spielt der gebürtige Nordire in seiner dritten Zusammenarbeit mit dem spanischen Regisseur Jaume Collet-Serra einen trunksüchtigen Haudegen, der von den Geistern seiner Vergangenheit verfolgt wird. Schon der reflektierte Off-Kommentar des ehemaligen Auftragskillers Jimmy Conlon führt dem Betrachter zu Beginn deutlich vor Augen, dass wir es hier mit einem Mann zu tun haben, der seine früheren Taten bereut und sich nach Wiedergutmachung sehnt. Eine Chance dazu erhält er ganz unerwartet, als der Sohn seines besten Freundes Shawn Maguire (Ed Harris) einen Dealer und dessen Handlanger erschießt. Ausgerechnet Jimmys entfremdeter Sohn Mike (Joel Kinnaman), ein rechtschaffener Familienvater, wird Zeuge des Mordes und gerät damit auf die Abschussliste des durchgeknallten Täters. Um Mikes Leben zu schützen, tötet Conlon Shawns Sprössling und zieht damit den Hass des Mafia-Paten auf sich. Maguire denkt nicht daran, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und schickt seine Bluthunde aus, um Jimmy und seinen Sohn zur Strecke zu bringen. Parallel heftet sich der umtriebige Detective Harding (Vincent D’Onofrio) an die Fersen des flüchtenden Gespanns.

Zeitlich begrenzt auf eine einzige Nacht, entfaltet sich vor diesem Hintergrund eine Hetzjagd, die Genre-Freunde durchaus bei Laune halten dürfte. Wenn es drauf ankommt, macht Conlon kurzen Prozess und beweist, dass er sein tödliches Handwerk noch immer beherrscht. Prügel- und Schießszenen gehören daher ebenso zum Repertoire von Run All Night wie dynamisch gefilmte Verfolgungsjagden, bei denen Collet-Serra einmal mehr sein Gespür für handgemachte Actionmomente demonstriert, selbst wenn manche Sequenzen – etwa ein Kampf in einem lichterloh brennenden Apartment – etwas selbstzweckhaft daherkommen.

Jenseits der aus den 96 Hours-Filmen bekannten Selbstjustiz-Dramaturgie, die standesgemäß nicht hinterfragt wird, versucht Drehbuchautor Brad Ingelsby (Auge um Auge) wiederholt, emotionale Kontrapunkte zu setzen. Kleine Augenblicke des Innehaltens zu schaffen, die letztlich spannender ausfallen als die actionhaltigen Run-and-Kill-Passagen. Eindringlich sind neben den hitzigen Diskussionen zwischen Conlon und seinem abweisenden Sohn vor allem die Sequenzen, in denen die tiefgehende Freundschaft des Profikillers zu seinem früheren Auftraggeber Maguire spürbar ist. Neeson und Harris bringen das lange gewachsene Vertrauensverhältnis in einer einzigen Szene auf den Punkt und vermitteln ebenso glaubwürdig dessen Aufkündigung nach dem Tod des Gangstersohnes.

Weniger überzeugend gelingen die Anreicherungen hingegen beim Subplot rund um Detective Harding, der davon besessen scheint, Conlon endlich seine früheren Taten nachzuweisen. Treffend besetzt mit Vincent D’Onofrio, kommt die Ermittlerfigur leider zu selten über den Status eines einfachen Stichwortgebers hinaus. Noch offensichtlicher ist dies im Fall des Teenagers Curtis Banks (Aubrey Joseph), den Mike Conlon in einem Box-Club unter seine Fittiche genommen hat. Sonderlichen Eindruck kann der Junge nicht hinterlassen, da seine Funktion lediglich darin besteht, ein Handy-Video des Mordes aufzunehmen, das zu einem späteren Zeitpunkt bedeutsam wird.

Die Mängel in der Charakterzeichnung und der Ausformung der Nebenstränge lassen Run All Night allerdings nicht zu einem Ärgernis verkommen. Vielmehr darf sich der Zuschauer auf einen grimmigen, phasenweise sogar mehr als soliden Thriller einstellen, der im trüben, nebelverhangenen Morgenlicht des Showdowns noch einmal einen kräftigen Spannungsschub erhält. Gleichzeitig kann man fast den Eindruck gewinnen, dass Liam Neeson mit diesem Auftritt ein wenig seinen Abschied vom Actiongenre vorbereitet, lautet doch die Erkenntnis seiner Figur zum Ende hin: „I’m too old to run.“
 

Run All Night (2015)

Vor einigen Wochen äußerte sich der spätberufene Actionstar Liam Neeson eher zurückhaltend über seine weitere Karriere als Hollywoods Haudrauf vom Dienst. Vielleicht zwei Jahre könne er die körperlichen Anforderungen des Genres noch erfüllen, danach werde er sich wahrscheinlich aus dem Testosteron-Kino zurückziehen, ließ er in einem Interview verlauten.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Martin Zopick · 29.11.2020

Sie handeln mit Heroin, hängen an verwandtschaftlichen Beziehungen und schießen erst bevor sie fragen. Die beiden Alten sind Jugendfreunde: Jimmy Conlon (Liam Neeson) und Shawn Maguire (Ed Harris). Jimmy ist kaputt und pleite, Shawn hilft ihm über Wasser zu bleiben. Erst als ihre Söhne Mike Conlon (Joel Kinnaman) und Danny Maguire (Boyd Holbrook) aneinandergeraten und Danny erschossen wird, werden sie zu unerbittlichen Feinden. Familienehre contra Männerfreundschaft. Frauen spielen hier keine große Rolle.
Es wird eine Gewaltlawine losgetreten, in der alle bis auf Mike ihr Leben verlieren. Die Spannung kommt von den endlosen Ballereien und dem aus dem Weg räumen von Gegnern. Ein Prinzip trägt bis zum Ende. Dann wird die emotionale Notbremse gezogen und Freund und Freund, Vater und Sohn richten sich gegenseitig hin. Man traut Liam Neeson mit seinem ehrlichen Gesicht diese Brutalität gar nicht zu. Er versucht als Großvater zu punkten, als sein Sohn ihn draußen vor der Tür im Regen stehen lässt. Auch Altstar Ed Harris kommt anfangs ehrenhaft daher. Doch alle Figuren sind hier kriminell bis auf Mike, der auch zu einem geordneten Leben zurückkehrt. Er war halt nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Vielleicht ist er es der die ganze Nacht laufen muss. Vater und Vaters Freund können es nicht mehr. Ist der Sinn hier die sinnfreie Spannung, die von Brutalität angetrieben wird? Oder ist es der vergebliche Versuch des Vaters, Jimmy, sich für seinen Sohn Mike zu opfern? Fragen über Fragen…