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Rock’n’Roll als reine Männerangelegenheit? „Rock Chicks“ hält dagegen und porträtiert Pionierinnen, die die Geschichte der Rockmusik in den 50ern entscheidend geprägt haben. Und die in einem männlich dominierten Business viel zu lange marginalisiert wurden. 

Rock Chicks (2021)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Gitarrenheldinnen

Chuck Berry und Little Richard, Bill Haley und Jerry Lee Lewis, schließlich Elvis: Die Rock’n’Roller der 1950er verschoben ihre Musik immer mehr von Schwarz nach weiß, bis sie mit Elvis den Mainstream erreichte, einer neuen Teenager-Generation (Selbst-)Bewusstsein verlieh und eine kulturelle Revolution vorantrieb. So oder ähnlich lautet die gängige Musikgeschichtsschreibung. Doch was ist mit Sister Rosetta Tharpe, die den Gospel schnell und laut spielte, mit Wanda Jackson und ihrer „nasty voice“, mit Rosetta Thornton, die vor Elvis den „Hound Dog“ runterrockte? „Rock Chicks“ zieht die Pionierinnen des Rock’n’Roll aus der Vergessenheit und korrigiert damit die Rockhistorie.

Ist Rockmusik eine männliche Angelegenheit? So, wie die Geschichte geschrieben wurde, ja; in Wirklichkeit wurde der weibliche Einfluss schlicht ignoriert, verdrängt, unterdrückt. Marita Stocker besucht für ihren Film Rockerinnen der ersten und zweiten Stunde, ältere, vornehme Damen, aber wehe, wenn sie die Gitarre in die Hand nehmen, oder wie Linda Gail Lewis, Schwester von Jerry Lee, auf der Bühne mit den Cowboystiefeln in die Tasten hauen. Kay Wheeler, in einem Filmausschnitt von 1956, hat einen Hüftschwung drauf, der Elvis blass aussehen lässt.

Ich gestehe freimütig, von vielen der Rockerinnen in diesem Film noch nichts oder kaum etwas gehört zu haben. Und das ist genau das Problem, das Stocker angeht: Sie porträtiert Frauen, die bisher nicht porträtiert wurden, schreibt die Geschichte vielleicht zwar nicht um, erweitert sie aber um einen vergessenen Aspekt. Wobei selbstverständlich diese Neu- oder Andersschreibung nicht nur eine Würdigung der Rock’n’Rollerinnen enthält, sondern auch eine Untersuchung der Ursachen, die in hegemonialer Männlichkeit liegen, in einer Marginalisierung des Weiblichen – und natürlich der Schwarzen. Dies steckt ja im Rock’n’Roll sowieso drin und ist in dieser Hinsicht nochmals verschärft.

Rosie Flores, Countryrock-Gitarristin, spielt mit dem Herzen, nicht mit dem Unterleib – das ist ihre Definition weiblicher Rockmusik. Linda Gail Lewis ist stolz darauf, „a woman with balls“ zu sein. Cathy Valentine von den Go-Gos beschwert sich über den Sexismus im Business: schönes Outfit anziehen, schön einen Ballon hochhalten – würde man das von Duran Duran verlangen? Und Kristin Hersh bringt es auf den Punkt: Don’t play music, play product – das sei das Motto des Business, Frauen sollen hübsch und schwach sein. Aber: „I am not female to you!“, hält sie dem entgegen.

In Archivaufnahmen sehen wir Cordell Jackson, Rockabilly-Musikerin mit dollem Gitarrenspiel bis ins hohe Alter, wo sie aussieht wie die Großmutter in einer „Räuber Hotzenplotz“-Verfilmung: 400 Songs hat sie geschrieben, ein eigenes Label aufgemacht. Wir sehen Suzi Quatro in den 70ern mit einem unglaublichen Basssolo, wie es die Rock-Herren der damaligen Zeit nicht hinbekommen hätten. Suzi Quatro wurde 2019 in Liam Firmagers Doku Suzi Q ausführlich porträtiert, und ein bisschen bekommt Marita Stockers Rock Chicks eine Schlagseite, weil andere Rock-Acts der 70er wie Blondie oder Heart nicht einmal erwähnt werden, ihre Präsenz als Frauen im Rockgenre aber unüberseh- und unüberhörbar war (ganz abgesehen von Grace Slick, Janis Joplin etc. aus der Gegenkultur der 60er) – die Brücke, die Stocker von den Pionierinnen und Veteraninnen ins Heute schlägt, ist unvollständig und vielleicht auch brüchig. Das aber ist ja auch nicht die Hauptzielrichtung des Films, und es beeinträchtigt natürlich nicht das Erinnern an Musikerinnen, ohne die die Rockmusik heute eine andere wäre. Es wird Zeit, dass wir das anerkennen.

Rock Chicks (2021)

Wenn von „Rockstars“ die Rede ist, ist das Klischee meist männlich mit hohem Coolnessfaktor, Drogenproblemen, Groupies und elektrischen Gitarren, die wie Waffen gegen das Establishment gerichtet werden. Dass aber bereits in den Anfängen des Rock’n’Roll, ab Mitte der 1950er Jahre, Frauen Haushalt und Petticoat gegen ein Leben „on the road“ tauschten, dass sie die Bühnen rockten und den „Growl“ beherrschten, wurde erfolgreich aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt. Zeit für eine Spurensuche. Zeit für die „Godmothers of Rock’n’Roll“. (Quelle: MFG)

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