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Düster, mit scharf gestellter Kamera – damit ihr nichts entgeht – inszeniert „Red Rooms“ Montreal als Tatort der Sensation. Ein Serienmörder, sein Gerichtsverfahren und seine Fans. Während all das in der Realität stattfindet, wacht das Digitale unheimlich über allem.

Red Rooms (2023)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Schuldfrage als Spektakel

Rosemont, Montreal. Drei Mädchen wurden umgebracht. In sogenannten „Red Rooms“, geheimen und exklusiven Darknet-Gruppen, waren ihre Morde gegen Auflage von Geld – vorzüglich Bitcoin – mitzuverfolgen. Als Täter komme nur einer in Frage: Ludovic Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos). Soweit die Staatsanwaltschaft. Laut der Verteidigung ist er aber unschuldig, habe „noch nie auch nur ein Strafzettel bekommen.“

Red Rooms verfolgt das Gerichtsverfahren über 2 Monate hinweg. Zeugen werden aussagen, Aussagen relativiert werden, aber vor allem werden die Hinrichtungsvideos den Geschworenen präsentiert. Jedoch ist Red Rooms kein Gerichtsdrama. Das meiste passiert vor, nach und während der Sitzungstage im Digitalen. In der letzten Reihe des öffentlichen Verfahrens sitzen die „Fans“ des von den Medien als „Dämon von Rosemont“ bezeichneten Angeklagten. Im Fokus der Erzählung: Weltverbesserin Clémentine (Laurie Babin) und Kelly-Anne (Juliette Gariépy), Model und Hackerin. Während Clémentine die potenzielle Unschuld des Angeklagten verehrt, so begehrt Kelly-Anne seine Schuld.

Red Rooms ist ein Spiegelbild – die Umkehrung – von Anatomie eines Falls (2023). Drapiert Anatomie eines Falls die Ambiguität von Wahrheit, so interessiert Red Rooms nur Eindeutigkeit. Regisseur Pascal Plante zoomt in Gesichter, als suche er im Detail die Antwort. Kleine Gesichtszüge könnten zwischen unschuldigem Justizopfer und unmenschlichem Massenmörder entscheiden.

Der „Dämon von Rosemont“, eingesperrt in einem großen Glaskasten, wird während der 118 Minuten nicht ein Wort sagen. Nicht einmal die Kamera scheint das massive Glas durchbrechen zu können. Keinen voyeuristischen Blick aus den Augen des Angeklagten steht Plante seinen Zuschauer:innen zu. Gleiches gilt für die Videoaufnahmen der Morde. Die Gesichter derjenigen, die die Videos sehen, werden zur Leinwand. Von Gewalt verformt und tiefrote Pixel tragend, sind sie der einzige Monitor der Filmzuschauer:innen. Aus dem Grundsatz „Show, don’t tell“ wird ein moralisches Gebot.

Großes Lob gilt der Inszenierung des Digitalen. Keine retrofuturistische Wand aus grünen Zahlen. Glitches – Fehler in der Welt – schleichen sich ein. Selbst die Musik ist im Einklang mit Kelly-Annes Tastaturschlägen. Während selbst große Produktionen immer noch daran scheitern, einen Desktop akkurat abzubilden, verschiebt Red Rooms ganze Sequenzen in die Pixel-Landschaft. Filme wie Host (2020) oder Missing (2023) erreichen Vergleichbares – machen dies aber auch zu ihrem Hauptkonzept.

Eine Vorstufe der reinen Digitalität zeichnet die Berichterstattung zum Gerichtsverfahren aus. Dort sieht man ähnliche Phänomene wie in zeitgenössischen Beispielen (man denke an Depp gegen Heard), insofern als das Ergreifen einer Partei zum essenziellen Teil des Spektakels wird. Ob in Nachrichtsendungen oder Talk Shows, es ist stets ein Überfluss an Freude zu spüren, wenn der Verdächtige verurteilt wird. Der analoge Raum des Gerichtes wird belagert, um einen Platz auf den Zuschauerrängen zu ergattern. Als vollkommen unmoralischer Raum hingegen wird das Darknet präsentiert. Dort würden lediglich Angebot und Nachfrage regieren – die Basis dafür, dass ein Red Room überhaupt existieren kann. Selbst Attribute der Opfer, z.B. blaue Augen, sollen dem Täter von der Nachfrage der Kunden diktiert worden sein.

Der Begriff „Banalität des Bösen“ der politischen Theoretikerin Hannah Arendt beschreibt, dass selbst grausamste Taten keineswegs auf ein besonderes Gemüt oder Wesen schließen lassen. Die Obsession der Protagonistin basiert also genau auf einem Widerspruch dieser Aussage. Sie spricht dem vermeintlichen Serienmörder Virtuosität und Tugend durch seine Gräueltaten zu. Allerdings wird im Geflecht zwischen Red Rooms – also dem „Markt“ – und vermeintlichem Kunstwerk deutlich, dass es sich doch nur um eine Ware handelt. Während Filme wie Memories of Murder (2003) oder The Vanishing (1988), Arendts These anhand von unaufgeregten Motiven und beinah parodistischen Serienmördern thematisieren, sehen wir in Red Rooms Exzess im Widerspruch. 

Immer wieder wird das Pokerspiel thematisiert, welches Kelly-Anne mit ihren Bitcoins zum Geldverdienen betreibt. Vielmehr dient Poker als symbolische Analogie der ausweglosen Situation, in der sich die beiden Frauen befinden, nachdem sie bereits so viel aufs Spiel gesetzt haben, dass ein Aussteigen keine Option mehr darstellt. Im Poker nennt man dieses Phänomen Verlustaversion („Sunk Cost Fallacy“). In ihrer Obsession zum Angeklagten sind sie schon lange All-In gegangen, ein Aussteigen ohne Gesichtsverlust ist undenkbar. Aus Verlustaversion wird Stockholm Syndrom. Es bleibt nur die Hingabe. Pascal Plantes Regie siebt zwischen all den abwertenden Blicken diese heraus, die eine solche Unterordnung als Ergebnisses einer von Misogynie triefenden Welt entlarven.

Zwischen Einsen und Nullen liegt einer der ambitioniertesten Thriller der letzten Jahre. Es stellt sich die Frage, wo Pascal Plante die beschriebenen Red Rooms ansiedelt. Die Realität scheint morbider als das gesichtslose Darknet. Plantes Film vermeidet alle Fallen, in welche Thriller und True-Crime so gerne treten, denn: in Red Rooms steht der Täter nicht im Fokus. Stattdessen ist Red Rooms ein Portrait einer Frau geworden – eine Abwärtsspirale in deren Zentrum nur die Banalität des Bösen liegt. Am Ende bleibt nur folgender Schluss: Der Red Room, der ist im Gerichtssaal.

Red Rooms (2023)

Der Film erzählt von einer jungen Frau, die einen Prozess gegen einen Mädchenmörder verfolgt und von dem Mann fasziniert jede einzelne Gerichtsverhandlung besucht. 

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