Reality (2014)

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Auf der Suche nach dem perfekten Schrei

Kennen Sie den Wilhelmsschrei? Selbst wenn Sie das jetzt verneinen, ist es sehr wahrscheinlich, dass Sie ihn dennoch schon häufig gehört haben. 1951 wurde er zum ersten Mal aufgenommen, für die Dreharbeiten zu Raoul Walshs Western Die Teufelsbrigade. Der Sound ist der Schrei eines Mannes, der von einem Alligator gefressen wird. Es ist der perfekte Schrei.

Und weil dem so ist, wird er seither als Sounddesign in nahezu jeden fünftem Film verwendet. Selbst in Computerspielen und Fernsehserien wird er benutzt. Und der Elektro-Pop-Guru James Blake hat dem „Wilhelms Scream“ einen ganzen Song gewidmet. Es ist eine Erfindung wie sie vielleicht nur das Kino machen konnte. Irgendwie fake, irgendwie aber auch ehrlich und effektiv. Doch für so was gibt es keinen Oscar.

Aber genau diese Aufgabe bekommt Jason (Alain Chabat) von seinem notorisch abgelenkten Produzenten. Denn Jason, der tagsüber ein unterbezahlter Kameramann für eine Koch-TV-Show ist, will seinen ersten Spielfilm drehen. Waves soll das Werk heißen und im Prinzip soll darin das Unterforderungsmedium „Fernsehen“ seiner eigentlichen Bestimmung überführt werden und jeden, der in die Glotze schaut, umbringen. Während diese Wellen uns innerlich verbrennen, sollen die Menschen einen unbeschreiblichen Schrei ausstoßen. Und genau diesen soll Jason aufnehmen und dem Produzenten in 48 Stunden vorlegen. „Ich will einen Oscar für diesen Schrei“, sagt der Produzent und stürzt Jason in eine massive Krise.

Das ist eine der vielen cleveren Episoden, die der Mittlerweile kultige französische Regisseur Quentin Dupieux in seinem neuesten Film Reality erzählt. Worum es noch geht? Um das kleine Mädchen Realität, dass in dem von ihrem Vater erlegten Wildschwein eine blaue VHS-Kassette findet; um dem Moderator der TV-Kochshow, der meint an einem Hautekzem zu leiden und sich permanent kratzt; auch um Realitäts Schuldirektor, der davon träumt in Frauenkleidern einen Jeep zu fahren und alten Menschen Blumen zu bringen; und nicht zuletzt um einen ehemals obdachlosen Dokumentarfilm-Regisseur, der das alles zu inszenieren scheint und am liebsten Realität dazu überreden will, vor der Kamera einzuschlafen.

Alle Figuren begegnen sich in dieser intelligenten, surrealen Version von Artur Schnitzlers Der Reigen, der einem bei solchen Episodennarrativen immer zu erst einfällt. Doch obwohl sich alle Figuren hier begegnen, können wir uns nie sicher sein, ob dem wirklich so ist. Denn immer wenn wir meinen die Konstellation durchschaut zu haben, öffnet Dupieux eine neue Falltür in die nächste Dimension seines Drehbuchs. Plötzlich verschieben sich die Perspektiven. Figurenkonstellationen machen keinen Sinn mehr, wirken wie aus einem neuen Film.

Dem Ganzen zu folgen ist ein herrlicher Spaß. Auch weil der Film ein leichthändiges Spiel jeglicher Realitätskonzepte ist und vielleicht am besten als eine dieser unmöglichen Raumfiguren des niederländischen Surrealisten M.C. Escher beschrieben werden sollte. Eine Figur, in dem der arme Jason immer noch nicht den perfekten Schrei aufgenommen hat…

Quentin Dupieux hat sich als Regisseur mit Reality konsequent weiterentwickelt. Er hat seinen surrealen Stil aus dem Trashfilm in die Sphäre des Autorenfilms katapultiert. Insbesondere der Look seines Films spricht von seiner Reife, evoziert er doch die esoterischen Indie-Filme von Miranda July und Zach Braff, nur um zu demonstrieren, dass er ihnen formal und inhaltlich haushoch überlegen ist.

Wenn der ehemalige Mr. Oizo so weiter macht, hat er das Potential in die erste Liga der Autorenfilmer aufzusteigen. Wobei dem eklektischen Genie sicherlich nichts ferner liegen sollte.
 

Reality (2014)

Kennen Sie den Wilhelmsschrei? Selbst wenn Sie das jetzt verneinen, ist es sehr wahrscheinlich, dass Sie ihn dennoch schon häufig gehört haben. 1951 wurde er zum ersten Mal aufgenommen, für die Dreharbeiten zu Raoul Walshs Western „Die Teufelsbrigade“. Der Sound ist der Schrei eines Mannes, der von einem Alligator gefressen wird. Es ist der perfekte Schrei.

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