Populärmusik aus Vittula

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Rock'n Roll im Kaff

Es könnte, gerade im Arthouse-Bereich, ein eigenes Genre geben, das sich mit „Kaff-Filmen“ betiteln ließe. Charakteristisch dafür wären Geschichten, die sich in einem kleinen, meist öden Ort ereignen, häufig bevölkert mit eigentümlichen Käuzen, die ein unspektakuläres Leben führen, bis ein Impuls aus der Welt außerhalb den gewohnten Rhythmus stört. Veränderungen brechen ein oder Veränderte aus — und immer geht es um die großen Themen wie Identität, Liebe und Freundschaft oder Tod, tragikomisch inszeniert. Filme wie Schultze Gets The Blues, Station Agent und Wie im Himmel wären klassische Vertreter dieser Gattung, zu der sich ohne Zweifel auch Populärmusik aus Vittula zählen ließe, der in einem Kaff jenseits des Polarkreises spielt.
„Ich wollte Niila den Trick beibringen, an den Tod zu denken, wenn er ein Mädchen ansprechen wollte. Denn was machte es schon aus, wenn sie einen auslachte, da wir sowieso in ein paar lächerlichen Jahrzehnten sterben würden. Es war der einzige Ratschlag, den Niila je befolgte. Er begann, wesentlich mehr an den Tod zu denken als an Mädchen.“ Auf diese Weise erinnert sich Matti (Max Enderfors) an die Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als ihn mit Niila (Andreas Af Enehielm) eine enge Freundschaft verbindet. Die beiden Jungen träumen verschwörerisch von fernen Welten wie Paris, China oder einfach Stockholm, denn ihre Realität in Vittula, einem Stadtteil des Dorfes Pajala in der rauhen Landschaft des nördlichsten Schwedens, ist äußerst derb.

In Pajala herrscht das Ideal einer Männergesellschaft von Holzfällern, Elchjägern und Flößern, die den Widrigkeiten der Natur mit unerschütterlicher Sturheit und gewaltiger Körperkraft trotzt. Die Vergnügungen bestehen aus groben Geselligkeiten mit Fingerhakeln und Saunawettbewerben, wobei ein enormer Alkoholkonsum unerlässlich ist. Alles, was sich außerhalb dieser groben Sitten bewegt, wird schlicht mit „Knapsu“ beschimpft, einem Begriff, der Unmännlichkeit und Verweichlichung verschiedenster Art bezeichnet.

Niila hat innerhalb seiner streng religiösen Großfamilie, vor allem bei seinem Vater Isak (Jarmo Mäkinen), keinen leichten Stand, denn der Junge zeigt wenig jener erwünschten, männlichen Haltung, deren Härten ihm Isak auch durch häufige Prügel nicht anzugewöhnen vermag, und auch Axtschläge auf Schallplatten können Niilas musikalische Ambitionen nicht zerstören. Trost und Verbundenheit findet Niila nur bei Matti, mit dem er eines Tages gemeinsam den Rock’n Roll entdeckt. Die Musik befällt sie gleich einem Rausch und erscheint den beiden als Synonym einer freiheitlichen Lebensform, nach der sie sich in der Enge der rigiden Moral ihres Kaffs so heftig sehnen.

Erst mit dem Erscheinen des neuen Musiklehrers Greger (Björn Kjellman), dem es durch geschickte Strategien wie einem Wettfahren auf dem Rad gegen den Schulbus gelingt, sich ein wenig Einfluss und den Respekt der Vittulaner zu erkämpfen, halten neue Töne Einzug in das Dorf. Als sogar die erste Rockband ins Leben gerufen wird, sind Niila und Matti natürlich sofort dabei, ungeachtet des herben Spotts ihrer Mitschüler und der Prügel von Niilas Vater. Doch dann breitet sich ein übler Schatten über die Freundschaft der Jungen aus …

Der ursprünglich aus dem Iran stammende Regisseur Reza Bagher hat für Populärmusik aus Vittula ein lebendiges Ensemble aus Newcomern, etablierten Akteuren und Laien um sich versammelt, um das eigens verfasste Drehbuch zur bekannten Romanvorlage von Mikael Niemis, der selbst in Pajala geboren wurde, umzusetzen. Während die Darsteller von Niila und Matti erst auf wenige Erfahrungen vor der Kamera zurückgreifen konnten, sind andere Akteure bereits populäre Gesichter durch Filme von Aki Kaurismäki, wie Kati Outinen (Niilas Mutter), oder Bille August (Björn Kjellman), und der Busfahrer von Pajala wird einfach verkörpert — vom Busfahrer aus Pajala, ebenso wie einige Dorfbewohner, denn der Film wurde direkt am Ort der Erzählung gedreht. Ein Umstand, der sich in nahezu magischer Weise auf seine Atmosphäre ausgewirkt hat. Das Szenenbild kreierte Anna Asp, die bereits für ihre Arbeit bei Ondskan mit dem schwedischen Filmpreis ausgezeichnet wurde, den Oskar für die beste Art Direction in Bergmans Fanny und Alexander erhielt und mit einer Reihe von Werken Bille Augusts auf eine äußerst erfolgreiche Filmographie blicken kann.

Bei der Dramaturgie hat sich der schwedische Regisseur auf vier Themen aus der Romanvorlage konzentriert, die ihm elementar erschienen: „Erstens die Musik, also den Rock’n Roll und seine Bedeutung für die Jungen und ihre Freundschaft; zweitens Sexualität und Pubertät; drittens die besondere Freundschaft zwischen Matti und Niila und die Möglichkeit des Verrats. Das vierte Thema war für mich der religiöse Fanatismus, der Niilas Familie und seine Kindheit prägt.“

Nach einigen Kurz- und zwei Spielfilmen, von denen Vingvar av glass (2001) mit internationalen Auszeichnungen prämiert wurde, ist Populärmusik aus Vittula nun der dritte Film von Reza Bagher. Die sorgfältige, geradezu liebevolle Inszenierung inmitten einer engagierten, prächtigen Crew hat einen bewegenden „Kaff-Film“ hervorgebracht, der ohne Zweifel ein begeistertes Publikum finden wird, von dem sich sicherlich nicht wenige dazu verführen lassen werden, den gleichnamigen Roman von Mikael Niemis zu lesen, sollte er ihnen noch nicht bekannt sein.

Populärmusik aus Vittula

Es könnte, gerade im Arthouse-Bereich, ein eigenes Genre geben, das sich mit „Kaff-Filmen“ betiteln ließe. Charakteristisch dafür wären Geschichten, die sich in einem kleinen, meist öden Ort ereignen.
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Meinungen

Aylin Gel · 11.01.2008

Super Film! Läuft nur leider viel zu selten ;-)

· 22.05.2006

Wer das Buch kennt, muss einfach enttäuscht sein. -Das kauzige Dorfleben ist noch ganz gut erfasst. Jedoch die Jungenfreunschaft, die die eigentliche Aura und Einzigartigkeit des Buches ausmacht, ist durch die dramaturgische Gewichtung kaputtgefilmt worden. - Matti ist in dem Film ein eitler Weiberheld, der seine Freunde 5 Minuten vor dem wichtigen Band-Auftritt für einen Fick im Stich lässt.

Patrizia · 11.05.2006

Selten so gelacht, ganz ehrlich. Braucht möglicherweise einen besonderen Humor. Hat man ihn, lacht man Tränen, während man auf der anderen Seite die Gesellschaftskritik sieht, die auf so cleverem Wege daherkommt, unprätentiös, dass sie nicht durch erhobenen Zeigefinger stört.

sarah · 22.04.2006

wahnsinn! Einerseits total ulkig und herrlich britisch (wobei.. der schwedische Humor scheint den Briten schon fast Konkurrenz zu machen!..) und andererseits genauso gesellschaftskritisch und bedrückend.
Eine perfekte Mischung, für alle die gute Rockmusik und schwarzen Humor lieben.
Zu erwähnen wäre noch die Glanzleistung aller(!) Schauspieler - der Film ist von vorne bis hinten perfekt besetzt!

lycia · 12.04.2006

die art des eigenen humors entscheidet hier ueber die wertung. herrlich schwarz, selten ein wenig ueberdreht. gefiel mir sehr und strapazierte ordentlich die lachmuskeln.

roland · 18.03.2006

Einfach ein gelungesnes Kunstwerk. Leider gibt es zu wenige Filme dieser Art.

Holger · 12.02.2006

Bedrückend und doch lauthals gelacht wie lange nicht.

· 26.01.2006

Ich mochte schon das Buch nicht besonders. Keine Ahnung warum ich mich dann habe breitschlagen lassen in den Film zu gehen. Naja, kam auch nicht anders rüber. Heile Welt Geschichte und absolut belanglos. Gibts so oder ähnlich schon dutzende Male.

Berti · 22.01.2006

Einer der besten Filme die ich die letzten Jahre gesehen habe.

Heiner · 20.01.2006

Wunderbarer Film!

Mobek · 19.01.2006

Herrlich skuriles Kunstwerk aus Skandinavien...

Christoph Müller · 11.01.2006

Ein schräger Film, der wunderbar die Eigenheiten der Menschen in der Polarregion einfängt. Ein köstlicher Spaß, der völlig zurecht auf der Berlinale 2005 als Geheimtipp gehandelt wurde. Wundervoll