Polder - Tokyo Heidi (2015)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Heidiland in Acidhand

Wer im Lexikon nachblättert, was das Wort „Polder“ bedeutet, wird erstaunt sein: „Polder werden niedrig gelegene, eingedeichte Geländeteile genannt, die sich in der Regel in unmittelbarer Nähe zu Gewässern befinden.“ Aha. „Im Hochwasserschutz werden so genannte Polder häufig eingesetzt“, steht da außerdem. So weit, so gut. Was dies wiederum mit dem im Titel von Polder – Tokyo Heidi verwendeten Wort zu tun hat, bleibt rätselhaft. Wie das Meiste in dieser poppig bunten und sehr übersteuerten Version einer Alice-in-Wunderland-Geschichte, die Virtual-Reality-Ingredienzien kompromisslos mit Stummfilm-Zitaten aus der Frühzeit des Kinos durch den Mixer jagt.

Nächster Versuch: Jede Genesis hat einen Schöpfer. Also „Wer hat’s erfunden?“ – nach dem berühmten Werbeclaim eines Schweizer Lutschbonbonherstellers, der später auch in diesem reichlich bizarren Spätvorstellungsfilm für die ARTE-Trash-Reihe genau so zitiert wird: Das war das theateraffine Regie-Duo Samuel Schwarz und Julian Grünthal. Beide haben sich im Umfeld der agilen, traditionell äußerst freigeistigen Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) kennengelernt, dort zusammen studiert. Der Erstgenannte Regie, der Zweite genoss dort eine umfangreiche Theaterausbildung.

Zusammen haben sie jetzt – nach ihrem ersten gemeinsamen Filmprojekt Mary & Jonny (Teilnahme im Spielfilmwettbewerb beim Filmfestival Max Ophüls Preis 2012) – erneut einen selbstgeschriebenen Stoff in Angriff genommen und mit einer Reihe kunstaffiner Darsteller in den Hauptrollen (z.B. Christoph Bach und Nina Fog) abgedreht. Wie sie ihren kaum in Worte zu fassenden Stoff jedoch erfolgreich durch diverse, mitunter sehr renommierte Fördermühlen (u.a. SWR, MFG Baden-Württemberg, SRF, Bundesamt für Kultur Zürich) geboxt haben, interessiert dann doch zwangsläufig an dieser Stelle: Denn solch einen Film gibt es tatsächlich nicht alle Tage zu sehen – und noch weniger: zu verstehen.

Was haben Fritz Langs Dr. Mabuse-Frisuren mit zeitgemäßen Computerspiel-Avataren zu tun? Warum wird mehrfach – und wenig gelungen – das Schwarz-Weiß-Universum F.W. Murnaus filmhistorisch geplündert und in eine dystopisch anmutende Zukunft transferiert? Wer – oder auch was? – verbirgt sich hinter dem ominösen Daten-Kraken-Konzern Neuroo-X, der in seinen anscheinend ziemlich populären Games permanent die Grenzen zwischen Traumwelt und Lebenslogik auflöst?

Was filmtechnisch absolut spielerisch (Bildgestaltung: Quinn Reimann) beginnt, fasziniert auch durch lustvollen Schauspieleinsatz – mindestens die ersten 30 Minuten: Christoph Bach als zeitenwandelnder Gameentwickler Marcus mit Spike-Jonze-Gedächtnisbrille aus dessen Film Her. Das hat etwas! Der Zuschauer folgt ihm erst mal blind durch Zeit und Raum, er begegnet dabei einer Vielzahl von C.G. Jung-Archetypen im japanischen Anime-Gewand: die Mutter, die Böse, die Naturfrau – und natürlich die Liebhaberin. Das Ganze ist zum Teil noch alpenländisch angehaucht („Kennst du die Geschichte von Walterli?“) und mehrfach wie offensiv mit Bezügen zur Film- (u.a. James Bond, Star Wars) wie zur Games-Historie (z.B. Super Mario) verquirlt: Reizüberflutung 2.0. Oder schlicht: ein groteskes Gruezi aus der Schweiz!

Vielmehr noch: Der Betrachter kann im Prinzip gar nichts anderes tun als hinzusehen. Denn das automatische Verstehen- und Informationen-in-Kästchen-Ablegen-Wollen, ist dem Menschen nun mal seit Aristoteles in die Wiege gelegt worden. Keine schlechte Basis also, für die Betrachtung eines Films. Oder, Moment, einer Kunstinstallation? Vielleicht auch eines verlängerten Computergames? Ja, was ist Polder – Tokyo Heidi denn nun? „Rätsel-Raten-mit-Anfassen“ fällt einem dazu ein. Puh: der Kritiker streikt zum zweiten Mal.

Denn plötzlich tauchen im Umfeld von Marcus’ Geliebter Ryuko (Nina Fog als tragische culture clash queen) diese dunklen Dämonen auf: Erinnerungen, Zeitsprünge. Gefolgt von Hexen- und Henkersfiguren, die eher einem mauen, mit Laien inszenierten Mittelalter-Kulturfernsehbeitragstück als einem wirklichen Science-Fiction-Abenteuer entstammen (wie in Andrzej Żuławskis Der Silberne Planet von 1977). Ist das lediglich dem geringen Budget geschuldet – oder soll das der Versuch einer neuartigen Sci-Fi-Ästhetik im Camp-Stil à la Susan Sontag sein?

Spätestens jetzt muss sich der Zuschauer entscheiden, denn für das schrille Gemeinschaftswerk der Regisseure Schwarz und Grünthal existiert schlichtweg kein Durchblick. Von einem Überblick ganz zu schweigen: Polder – Tokyo Heidi mäandert lieber, um in der etymologischen Sprache der Flüsse und Uferstellen zu bleiben, munter weiter. Ohne Plot zwar, aber nicht gänzlich frei von Unterhaltungslüsten: Was bedeutet jetzt dieses rote Büchlein schon wieder?

Im nächsten Moment stoppt der Film, die Leinwand ist schwarz – und wirre Dialogfetzen sind nur ansatzweise aus dem Off zu hören. Dann folgt so eine Art Upload – und das wilde Spiel geht weiter. Zwischen „Hello … User“-Untertitelzeilen im Kinobild, einer Reihe von Neologismen und eigensinnig (oder bewusst falsch?) eingesetzter Grammatik in vielen Dialogzeilen („Das süße kleine Tokyo Heidi“) verliert man jetzt endgültig den Zusammenhang: Ein Schweizer Amokläufer namens Fritz tritt auf … Das Rigi-Bahn-Lied ertönt … Nirgendwo steht Game Over … Verdammt noch mal: Wo ist hier der Off-Button?
 

Polder - Tokyo Heidi (2015)

Wer im Lexikon nachblättert, was das Wort „Polder“ bedeutet, wird erstaunt sein: „Polder werden niedrig gelegene, eingedeichte Geländeteile genannt, die sich in der Regel in unmittelbarer Nähe zu Gewässern befinden.“ Aha. „Im Hochwasserschutz werden so genannte Polder häufig eingesetzt“, steht da außerdem. So weit, so gut. Was dies wiederum mit dem im Titel von „Polder – Tokyo Heidi“ verwendeten Wort zu tun hat, bleibt rätselhaft.

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