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Nachdem die Drogenszene auf dem Platzspitz in Zürich aufgelöst wird, sind Mia und ihre süchtige Mutter weitgehend auf sich selbst gestellt. Mias Hoffnung, die Mutter werde sich für ein besseres gemeinsames Leben zusammenreissen, wird immer wieder zerstört. „Platzspitzbaby“ liegen die wahren Erlebnisse einer jungen Frau zugrunde. 

Platzspitzbaby (2020)

Eine Filmkritik von Teresa Vena

Meine Mutter und die Drogen 

Wer heute durch Zürich geht, wird kaum glauben können, dass die Stadt einst, in den 1980er Jahren, eine der größten offenen Drogenszenen Europas hatte. Ausgerechnet hinter dem Hauptbahnhof, wo sich ganz in der Nähe Luxusgeschäfte und trendige Lokale aneinanderreihen, wo gestriegelte Geschäftsleute vorbeieilen und Touristen wie Einheimische flanieren, befindet sich der Platzspitzpark mit dem Spitznamen „Needle Park“, der bis zu seiner offiziellen Räumung 1992 als Umschlagplatz für Drogen und Prostitution diente. Die Ausmaße der Szene waren beachtlich, die Schicksale, die daran hingen, tragisch, und sie hinterlassen noch Jahrzehnte danach ihre Spuren. 

Ein Zeugnis davon gibt die Schweizerin Michelle Halbheer, Jahrgang 1985, mit ihrem Roman, der 2013 erschien. Sie erzählt darin, wie sie mit ihrer drogensüchtigen Mutter die Szene frequentierte. Sie gibt Einblick nicht nur in die privaten Umstände ihrer Familie, sondern weist auch auf die sozialen und politischen Strukturen hin, die in der Zeit für den Umgang mit dem Thema zur Verfügung standen – oder eben eher nicht. Ihre Autobiografie findet mit Platzspitzbaby unter der Regie von Pierre Monnard nun den Weg auf die Leinwand. 

Der Film hat in der Schweiz einen beachtlichen Erfolg gehabt, als er noch Anfang 2020 dort ins Kino kam. Für ein gutes Gelingen beim breiten Publikum hat er denn auch alle Voraussetzungen. Die herzerwärmende Geschichte einer jungen Frau, von einer äußerst eindrucksvollen Darstellerin gespielt, die dafür kämpft, ihrer Mutter aus der Drogensucht zu helfen, enthält Motive, mit denen sich jeder identifizieren werden können: Die Träumereien der Jugend, ein wenig Rebellion gegen das herrschende System und das Gefühl, Außenseiter zu sein. Dass der Film so anschaulich ist, hat schon dazu geführt, dass Platzspitzbaby für den Schulunterricht benutzt wird. 

Eine auffällige Verwandtschaft hat der Stoff mit Christiane F – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, der 1981 nach den Erfahrungen der titelgebenden Protagonistin von Ulrich Edel inszeniert wurde. Beide Male wird aus der Perspektive von Jugendlichen erzählt, doch im Vergleich zu Halbheer war Christiane Felscherinow selbst drogensüchtig. Die beiden Werke unterscheiden sich zudem vor allem darin, dass Platzspitzbaby auf die Drastik seines Vorgängers verzichtet. 

Gemildert ist Monnards Film insbesondere durch einen leicht fantastischen Einschlag. Er gehört schon fast zum Markenzeichen des Regisseurs und ist sowohl in seiner Tragikomödie Recycling Lily über eine Frau, die am Messie-Syndrom leidet, aber doch die große Liebe findet, als auch in seinen verschiedenen TV-Serien – Wilder gehört zu den erfolgreichsten Schweizer Formaten dieser Art – zu beobachten. Mia (Luna Mwezi) hat einen imaginären Freund, der sie ablenkt, wenn sie sich am verletzlichsten fühlt. Er bildet zudem das Bindeglied zwischen ihr und ihrer Leidenschaft zur Musik. 

Platzspitzbaby setzt im übrigen dann ein, als eigentlich das Gröbste überstanden ist – oder so war die naive Meinung der Behörden. Die Drogenszene wird aufgelöst, die Menschen kommen in ein „normales“ soziales Umfeld. Zum einen wird klar, wie unvorbereitet und überfordert die sozialen Instanzen mit dem Umgang mit den Drogensüchtigen sind, zum anderen erhöht sich der Druck auf die Hauptfigur nur noch mehr, die nun den Launen und Zusammenbrüchen der Mutter in einer kleinen Wohnung ausgesetzt ist.

In der Geschichte werden Mia und ihre Mutter (Sarah Spale) in den Heimatort der Mutter, irgendwo außerhalb Zürichs in einen beschaulichen Ort, umgesiedelt. Da sie mittellos und von der Sozialhilfe abhängig sind, haben sie keine Wahlmöglichkeiten. Plötzlich finden sich die Protagonistinnen in einem gutbürgerlichen Wohnhaus wieder, in dem sie sofort auffallen. Mia versucht alles, um sich zu integrieren. Doch in der Schule, wo man von ihrer Situation weiß, wird sie ausgegrenzt. Allein ein paar andere Außenseiter, die genauso von einer selbstbestimmteren Zukunft träumen, nehmen sie in ihren Freundeskreis auf. 

Konsequent bleibt der Film bei der Sichtweise Mias, die aus sich selbst heraus die Kraft finden muss, sich zu retten. Platzspitzbaby gibt eindrücklich ihren emotionalen Konflikt wider. Einerseits will sie für ihre Mutter dasein, aber andererseits erkennt sie, dass sie ihr gar nicht helfen kann – und sie selbst droht, an der Aufgabe zugrunde zu gehen. Dass dies alles insgesamt etwas zu ineffizient und ausführlich inszeniert ist, könnte man als Schwäche des Films herausstellen. Es entstehen gewisse Längen, die durch Straffung des Stoffes und dem Weglassen einiger klischierter Szenen, die unter den Jugendlichen spielen, sowie einer an sich trockeneren, weniger sentimentalen Inszenierung vielleicht hätten vermieden werden können. 

Platzspitzbaby (2020)

Frühling 1995: Nach der Auflösung der offenen Drogenszene in Zürich ziehen die elfjährige Mia und ihre Mutter Sandrine in ein idyllisches Städtchen im Zürcher Oberland. Doch das neue Zuhause ist für Mia kein Paradies. Denn Sandrine ist schwer drogenabhängig und hätte niemals das Sorgerecht erhalten dürfen. Mia flüchtet sich in eine Fantasiewelt mit einem imaginären Freund. Mit ihm unterhält sie sich in den einsamen Stunden und schmiedet fantastische Pläne für ein Inselleben mit ihrer Mutter, fernab der Drogen. In einer Kindergang, deren Mitglieder aus ähnlich schwierigen Verhältnissen stammen, findet Mia eine Art Ersatzfamilie und immer mehr auch die Kraft, sich gegen ihre alles beherrschende Mutter aufzulehnen.

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Meinungen

George · 08.02.2020

Ich war da!
Dieser Film, seine sanfte Erzählweise, die so brutal mitten ins Gesicht trifft, die überragenden schauspielerischen Leistungen. Das hat Narben wieder aufgerissen, die schon fast verdrängt waren. Beeindruckend! Ich bin aus dem Kino gegangen und habe mich schuldig gefühlt. Obwohl ich damals sicher keine Möglichkeit gehabt habe diese Tragödie in Zürich zu verhindern oder ändern. Aber ich war auch da in Zürich und damals war es so erschreckend "normal", dass sich nun dieses fiese Schuldgefühl dafür, dass dies einfach so hingenommen worden ist, durch Dein Inneres wühlt - ein grossartiges Werk