People Mountain People Sea

Eine Filmkritik von Martin Gobbin

In China töten sie Menschen

Sinnlose Brutalität – abgehakt. Sexuelle Gewalt – abgehakt. Leidende Tiere – abgehakt. Ach ja, ein schweigsamer rauer Protagonist – auch abgehakt. Das chinesische Rachedrama People Mountain People Sea arbeitet die grundlegenden Kriterien eines gewissen sozialrealistischen Filmtypus ordnungsgemäß ab. Und zwar handelt es sich dabei um jenes Subgenre, das anhand der Verrohung einzelner Menschen die Pathologien einer ganzen Gesellschaft aufzuzeigen versucht. Moralische Grenzen lösen sich auf, die Bestie im Menschen kommt zum Vorschein, aus dem gesellschaftlichen Miteinander wird ein wölfisches Gegeneinander.
Irgendwo in China wird ein Mann ohne erkennbaren Grund erstochen, mitten auf der Straße. Die Polizei ist indifferent oder inkompetent – und so fühlt sich der Bruder des Opfers gezwungen, den Täter auf eigene Faust zu jagen und Selbstjustiz zu üben. Seine Reise führt Lao Tie (Jianbin Chen) zunächst in die Großstadt Chongqing. Dort wird er zum Drogenschmuggler, um Geld zu beschaffen, mit dem er sich Informationen über den Mörder erkaufen will. „Das ist die heutige Realität“, sagt ein Freund. Im vorgeblich kommunistischen China ist Geld alles – und wer keines hat, ein Nichts.

Nachdem er nebenbei seine Ex-Frau vergewaltigt und seinen Stiefsohn in einen Tümpel geschmissen hat, zieht Lao Tie weiter auf’s Land, in eine Kohlemine, wo sich der Täter aufhalten soll. Dort geht es schlimm zu. Die Arbeiter leben eingepfercht wie Gefangene. Der schwarze Ruß auf ihren Gesichtern überdeckt jegliche Individualität. Immer wieder bricht in den Schächten Gewalt aus. Und dann ist da noch die Angst vor den Explosionen, die jedes Jahr zahlreiche chinesische Minenarbeiter töten.

Dass diese Geschichte nicht so recht zu packen vermag, liegt einerseits an der etwas formelhaften Erfüllung sozialrealistischer Erzählkonventionen. Das größte Defizit von People Mountain People Sea ist jedoch, dass Regisseur Cai Shangjun einfach zu viel will und sich deshalb nicht für eine Geschichte entscheiden kann. Zunächst geht es um die Apathie des Staates und die Diktatur des Geldes, dann rückt das Elend der städtischen Unterschicht ins Zentrum, ehe der Fokus umschwenkt auf das Leben der Minenarbeiter, das im chinesischen Raubtierkapitalismus keinen Wert zu haben scheint, weil jeder Mensch ständig ersetzbar ist.

Einzig während der letzten 30 Minuten kann der Film überzeugen. Wie in Wang Bings Coal Money geht es hinab in die Kohleminen, eine Art Hölle der Arbeiterschaft. Diese vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgene Welt ist ebenso düster wie duster. Allein die Grubenlichter erhellen das Dunkel – was dann auch zum wohl schönsten Bild des Films führt, wenn die Kopflampen auf der Kohlewand entlang flackern, während die Arbeiter mit dem Fahrstuhl in den Schacht einfahren. Die Spaten und Hacken der Männer hinterlassen dumpfe, aggressive Klänge. Wenn Lao Tie einmal all seine Wut an der Kohle auslässt, erzeugen seine Hiebe eine solche körperliche Wucht, dass man im Kinosaal unvermeidlich zusammenzuckt. Und da die Kohle off-screen bleibt, projiziert die Fantasie des Zuschauers automatisch den Körper des Mörders an ihre Stelle.

People Mountain People Sea ist trotz all der Rage seines Protagonisten und der häufig ausbrechenden Gewalt ein äußerst ruhiger Film, der geduldig zuschaut, statt auf Action zu setzen. Nicht die Rache steht im Vordergrund, sondern der Prozess des Abstumpfens bis zu einem Punkt, an dem es Lao Tie fast egal zu sein scheint, an wem er sich rächt.

Doch auch wenn diese Geschichte an einem ganz konkreten Ort im Herzen Chinas spielt, bleibt der soziale Kontext relativ austauschbar – einfach, weil das Programm von People Mountain People Sea schon so oft abgespult wurde. Kinatay hat dieselbe tiefpessimistische Sicht auf die Gesellschaft der Philippinen gerichtet, Cargo 200 hat das Ganze für Russland durchexerziert, A Serbian Film für Serbien und Seom – Die Insel für Südkorea.

Diese Liste ließe sich beliebig erweitern. Eine auffällige Gemeinsamkeit solcher Filme ist, dass sie in der Kinoauswertung oft nur ein kleines Publikum erreichen, auf Festivals aber umso erfolgreicher sind. People Mountain People Sea zum Beispiel gewann den Silbernen Löwen beim renommierten Festival in Venedig. Dieser Erfolg rührt sicher auch daher, dass deprimierende Einblicke in ein Land Kritikern gemeinhin als tiefer, wahrer und wertvoller gelten als optimistische Geschichten.

People Mountain People Sea

Sinnlose Brutalität – abgehakt. Sexuelle Gewalt – abgehakt. Leidende Tiere – abgehakt. Ach ja, ein schweigsamer rauer Protagonist – auch abgehakt. Das chinesische Rachedrama „People Mountain People Sea“ arbeitet die grundlegenden Kriterien eines gewissen sozialrealistischen Filmtypus ordnungsgemäß ab. Und zwar handelt es sich dabei um jenes Subgenre, das anhand der Verrohung einzelner Menschen die Pathologien einer ganzen Gesellschaft aufzuzeigen versucht.
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