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In „Orlando, meine politische Biografie“ lässt der Philosoph Paul B. Preciado viele Orlandos auftreten – und sprengt damit klug die Grenzen konventionellen Erzählens.

Orlando, meine politische Biografie (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Dear Virginia …

Wenn es um queeres beziehungsweise nicht-heteronormatives Kino geht, kommt schnell die Frage auf, was einen Film denn zu einem queeren Film macht. Haben wir es zum Beispiel mit einem queeren Film zu tun, wenn die Person, die auf dem Regiestuhl saß, LGBTQIA+ ist? Wäre demnach „Universal Soldier“ von Roland Emmerich, der offen schwul ist, ein queerer Film? Oder liegt ein queerer Film vor, sobald mindestens eine Figur darin als nicht-heteronormativ erscheint? Müssten wir somit „James Bond 007 – Diamantenfieber“ zum Kanon des queeren Kinos zählen? Oder geht es vielmehr um Ästhetik? Sind alte Hollywood-Melodramen oder Körperkino wie „300“ durch ihre (Bild-)Sprache queer, unabhängig von der sexuellen Identität der Leute vor und hinter der Kamera? Welche Bedingungen sind notwendig, welche sind hinreichend?

Der 1970 in Spanien geborene und heute in Paris lebende Autor, Kurator und Philosoph Paul B. Preciado bringt mit seinem Kinodebüt Orlando, meine politische Biografie eine zusätzliche spannende Kategorie ins Spiel: Er habe einen nicht-binären Film machen wollen, erklärt er in einem Interview. Das beeindruckende Ergebnis ist weder ein rein fiktionaler noch ein rein dokumentarischer Film. Es handelt sich um eine audiovisuelle Autobiografie des Künstlers (und Aktivisten), aber auch um eine Adaption von Virginia Woolfs Roman Orlando, der 1928 veröffentlicht und 1992 von Sally Potter mit Tilda Swinton in der Hauptrolle vergleichsweise konventionell verfilmt wurde.

Preciado erzählt von seiner eigenen Transition und lässt darüber hinaus mehr als zwei Dutzend weitere nicht-binäre Menschen im Alter zwischen acht und 70 Jahren zu Wort kommen. Dies geschieht indes nicht in Form typischer Lebensberichte als Talking Heads, sondern in Verbindung zu Woolfs Roman, der seit seiner Entstehung immer wieder anders gelesen wurde – mal als feministische Kritik am Patriarchat, mal als Schilderung einer lesbischen Liebe und aktuell vor allem als trans Erzählung. In Orlando, meine politische Biografie sind alle auftretenden Personen Orlando, als kollektive Utopie.

Insbesondere via Voice-Over ist Preciado im Film präsent. Darüber hinaus sehen wir das Personal mal in Einzelszenen, mal in der Interaktion miteinander. Es gibt theatralische Momente, doch das Gemachte, das Inszenierte ist stets erkennbar: Die Leute werden etwa vor der Kamera verkabelt, sie werden geschminkt, sie lesen Texte vor. Wir sind mit ihnen in der Natur, jedoch auch in künstlichen Räumen. Hinzu kommen Archivaufnahmen: Wie wurden uns trans Menschen in der Vergangenheit medial präsentiert?

Preciado bricht lustvoll die Regeln des Kinos, auf bewundernswert philosophische und intime Weise. Er sucht nach einer neuen Sprache – und findet sie, indem er eine starke, ganz allein für sich kämpfende Stimme der Vergangenheit mit der empowernden Vielstimmigkeit der heutigen trans Community kombiniert. Orlando, meine politische Biografie ist ein Brief an eine queere Autorin und zugleich eine Weiterführung ihres Schaffens, eine Fortsetzung der Reise, die Woolf vor knapp 100 Jahren mit ihrem wegweisenden Roman begonnen hat – und die immer weitergehen wird.

Orlando, meine politische Biografie (2023)

In der persönlichen Interpretation des Regisseurs von Virginia Woolfs Roman Orlando: A Biography erkiundet der Film die feinen Grenzlinien zwischen Realität und Fiktion.

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